Wanda Landowska
Wanda Landowska
Die deutsch-israelische Musikethnologin Edith Gerson-Kiwi (1908-1992), deren Nachlass sich zum Teil im EZJM befindet und derzeit erschlossen wird, machte nicht nur 1930 ihr Pianistendiplom am Sternschen Konservatorium in Berlin, sondern studierte 1931 auch Cembalo bei Wanda Landowska in Paris. (1) Mehrere Spuren in der Sammlung Dr. Edith Gerson-Kiwi, die zu Wanda Landowska führen, geben Anlass zu einer näheren Beschäftigung mit dieser außergewöhnlichen Pianistin, Komponistin, Musikpädagogin, Musikwissenschaftlerin und „Hohepriesterin des Cembalos“.
Wanda Landowska, am 5. Juli 1879 in Warschau in eine katholische Familie jüdischer Herkunft geboren, erhielt bereits im Alter von 4 Jahren Klavierunterricht. Ihre Eltern, der Rechtsanwalt Marian Landowski und die Übersetzerin und Linguistin Ewa Landowska, förderten ihr bemerkenswertes Talent. Ihre wichtigsten Klavierlehrer wurden die ausgewiesenen Chopinkenner Jan Kleczynski in den früheren Jahren und Aleksander Michalowski während Landowskas Ausbildung zur Konzertpianistin am Warschauer Konservatorium. Nach ihrem dortigen Abschluss im Jahre 1896 ging sie nach Berlin, um bei Heinrich Urban Komposition zu studieren, und siedelte 1900 nach Paris über. Dort heiratete sie den besonders an jüdischer Folklore interessierten polnischen Journalisten und Schriftsteller Henri Lew, der sich fortan Henri Lew-Landowski nannte, während Wanda ihren Namen beibehielt.
Im Nachschlagewerk „Great Jews in Music“ findet sich unter dem Eintrag zu Wanda Landowska folgender Hinweis: „From the beginning of her studies Wanda showed more interest in old music (especially that of Bach) than in the romantic pieces that appealed to most people of her time. Under her first teacher, she was allowed to play the old music. But her parents made her change to a teacher who put tight reins on her and insisted that she concentrate on dull exercises. Wanda made a secret vow, in writing, that when she grew up she would play the old music that she loved.“ (2)
Diesem Schwur sollte sie ihr Leben lang treu bleiben. Bereits in Warschau als Vierzehnjährige durch ihre Bach-Interpretationen aufgefallen, widmet sich Wanda Landowska in Paris verstärkt der Alten Musik und wird zu einer Vorreiterin einer historischen Aufführungspraxis. Im Mittelpunkt ihrer Bemühungen steht das Cembalo: „Das Cembalo und insbesondere die Sololiteratur für das Cembalo dem uninformierten Publikum des frühen 20. Jahrhunderts näher zu bringen, wurde das Leitmotiv für Wanda Landowkas umfassendes kulturelles Handeln. Ziel war es, ein Corpus an älterer Musik zum Erklingen zu bringen, das nur auf dem der Musik adäquaten Instrument zur Entfaltung kommen könne.“ (3) In Museen und Privatarchiven in ganz Europa forscht sie gemeinsam mit ihrem Mann nach historischen Instrumenten und Noten und nutzt auch ihre vielen Konzertreisen, die sie durch ganz Europa, nach Übersee und bis nach Russland (4) führen, zu diesem Zweck.
Neben ihren zahlreichen Artikeln in Zeitungen und musikalischer Fachliteratur erscheint im Jahr 1909 im Pariser Enoch-Verlag das in Zusammenarbeit mit ihrem Ehemann verfasste Werk „Musique ancienne“, in dem unter anderem verfochten wird, dass die Entwicklung der Musik (wie auch der Literatur und der bildenden Künste) und der Einsatz moderner Instrumente nicht zwangsläufig als Fortschritt zu sehen seien, sondern dass jede Epoche die ihr gemäßen Instrumente und Aufführungspraktiken hervorgebracht habe und diese gleichberechtigt nebeneinander stünden. (5) Dem weitverbreiteten Vorwurf, das Cembalo entfalte (im Gegensatz zum Klavier) keinen vollen Klang, hält sie unter anderem auch entgegen, dass man es zunächst richtig zu spielen verstehen müsse: „En outre, le toucher de cet instrument étant complètement différent et même opposé au toucher du piano moderne, il est trop évident que celui qui n’est pas assez familiarisé avec l’instrument du dix-huitième siècle obtiendra sur lui à peine le quart de sa véritable sonorité.“ (6)
Eine enge Zusammenarbeit mit dem Pariser Klavierhaus Pleyel beginnt. Für ihre Konzertreisen, für die ein Einsatz der von ihr gesammelten historischen Cembali naturgemäß nicht möglich war, lässt sich Wanda Landowska 1912 von Pleyel nach ihren Spezifikationen das „Grand Modèle de Concert“-Cembalo erbauen, das neben erweiterten Pedalen und Registern auch über einen Eisenrahmen zur Stabilisierung verfügte. (7)
1913 wird sie von der Berliner Hochschule für Musik zur Professorin der für sie neu gegründeten Cembaloklasse ernannt, sie und ihr Mann werden jedoch während des Ersten Weltkriegs als zivile Kriegsgefangene in Deutschland eingestuft. 1919 kommt Henri Lew bei einem Verkehrsunfall ums Leben. Nach einem kurzen Aufenthalt in der Schweiz geht Wanda Landowska 1920 zurück nach Paris und gründet 1925 in Saint-Leu-la-Forêt die École de Musique Ancienne, die bald internationales Ansehen genießt und Gäste und SchülerInnen aus aller Welt anzieht. Im Garten lässt sie einen kleinen Konzertsaal erbauen, den 1927 eingeweihten „Temple de la musique“, wo sie jährlich 12 Konzerte und 12 Meisterklassen gibt. (8) Ihr Anwesen beherbergt ihre umfangreiche Sammlung an historischen Instrumenten und ihre wertvolle, über 10.000 Bände umfassende Musikbibliothek.
Am 10. Juni 1940 flieht sie in letzter Minute mit ihrer Mitarbeiterin und Vertrauten Denise Restout vor den Nazis in das unbesetzte Frankreich und muss ihre wertvollen Sammlungen zurücklassen. Planvoll wird ihr Anwesen vom nationalsozialistischen „Sonderstab Musik“ geplündert, die Beute umfasst 54 Kisten mit großen Instrumenten (darunter auch Chopins Flügel aus Valdemossa), Noten und Büchern, Schallplatten und Korrespondenz. (9) Nur weniges wird nach dem Krieg restituiert. Von Landowskas zahlreichen Kompositionen bleibt auch das „Hebrew Poem for Orchestra“ verschollen. (10)
1941 erreichen Wanda Landowska und Denise Restout von Lissabon aus New York und lassen sich später in Lakeville, Connecticut, nieder, wo Wanda Landowska bis zu ihrem Tod im Jahre 1959 weiter unterrichtet, schreibt, komponiert und Platten aufnimmt. Auch konzertiert sie noch bis ins hohe Alter.
Vera Ibold (2014)
Wanda Landowska
Bibliographische Angaben
(1) Vgl. Allende-Blin, Juan (Hrsg.): Musiktradition im Exil, Köln 1993, S. 107.
EZJM-Signatur: A1 5 All
Dokumente aus dem Nachlass im EZJM weisen hingegen darauf hin, dass Edith Kiwi 1930 das Privatmusiklehrerexamen am Landeskonservatorium in Leipzig ablegte.
(2) Lyman, Darryl: Great Jews in Music, New York 1989, S. 110.
EZJM-Signatur: A0 Lym
(3) Harer, Ingeborg: Artikel „Wanda Landowska“, in: MUGI. Musikvermittlung und Genderforschung: Lexikon und multimediale Präsentationen, hg. von Beatrix Borchard, Hochschule für Musik und Theater Hamburg, 2003ff. Stand vom 13.5.2014. mugi.hfmt-hamburg.de/artikel/Wanda_Landowska (Abruf vom 23.10.2014).
(4) Welche Strapazen sie für ihr großes Ziel auf sich nimmt, zeigen auch ihre beiden Besuche bei Tolstoi 1907 und 1909 auf seinem Landgut Jasnaja Poljana: „In Felle verpackt, wird ihr Cembalo auf einem Pferdeschlitten durch den russischen Winter gezogen.“ Siehe „Missionarin am Cembalo“ in: Jüdische Allgemeine Nr. 25/11 vom 23. Juni 2011, S. 3.
(5) Vgl. zum damals vorherrschenden Fortschrittsgedanken auch Harer, Ingeborg: „Wanda Landowska“, in: Lexikon verfolgter Musiker und Musikerinnen der NS-Zeit, herausgegeben von Claudia Maurer Zenck und Peter Petersen unter Mitarbeit von Sophie Fetthauer, Universität Hamburg, seit 2005, www.lexm.uni-hamburg.de/object/lexm_lexmperson
_00002623 (Abruf vom 20.10.2014).
(6) Landowska, Wanda: Musique ancienne, Paris 1909, S. 170
EZJM-Signatur: B1 3 Lan
Landowskas Technik (“Bend the finger at all three joints“) lässt sich z. B. gut verfolgen anhand der Fotos in dem schmalen Band von Hauert, Roger (Aufn.) und Gavoty, Bernard (Text): Wanda Landowska, Genf/Frankfurt am Main 1956.
EZJM-Signatur: B2 2 Lan
(7) Vgl. Harer, in: MUGI, a.a.O, und Hauert/Gavoty, a.a.O., S. 27.
(8) Auf der Internet-Plattform You Tube ist ein 1927 in St. Leu gedrehter kleiner Film abrufbar sowie diverse andere Videodokumente zu Wanda Landowska.
(9) Vgl. de Vries, Willem: Sonderstab Musik. Music Confiscations by the Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg under the Nazi Occupation of Western Europe, Amsterdam 1996, S. 217-229. Eine Aufstellung des Raubgutes findet sich auf S. 219.
EZJM-Signatur: B1 5 Vri
(10) Vgl. etwa Brand, Juliane: The Musical Worlds of Polish Jews, 1920-1960: Identity, Politics, and Culture. A Review of the Conference at Arizona State University, 2013. http:/orelfoundation.org/index.php
/journal (Abruf vom 09.10.2014).
Weiterführende Literatur:
Elste, Martin (Hg.): Die Dame mit dem Cembalo. Wanda Landowska und die Alte Musik, Mainz 2010.
Last modified: 2022-03-29
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