Robert Lachmann

Robert Lachmann

Der Musikethnologe Robert Lachmann, geboren am 28. November 1892, wuchs in einer aufgeklärten jüdischen Familie in Berlin auf (1). Sein Vater war Gymnasiallehrer, seine Mutter stammte aus England. Lachmann erhielt eine humanistische Erziehung, zu der auch eine musikalische Ausbildung gehörte – er erlernte das Geigenspiel. Nach dem Abitur studierte er Deutsch, Englisch, Französisch und Arabisch. Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges wurde er Soldat und diente ab 1916 als Dolmetscher im Kriegsgefangenenlager in Wünsdorf (Brandenburg). Hier begegnete er Kriegsgefangenen aus Nordafrika und Indien, lernte deren Musik und Gesänge kennen und begann, diese niederzuschreiben. Angeregt durch diese Erfahrung studierte er ab 1918 Vergleichende Musikwissenschaft und Arabisch in Berlin und schloss seine Studien 1922 mit einer Promotion über Die Musik in den tunesischen Städten ab. Anschließend schlug Lachmann die Bibliothekarslaufbahn ein und arbeitete seit 1927 in der Musikabteilung der Berliner Staatsbibliothek.

Feldforschungen führten ihn zwischen 1925 und 1929 u. a. nach Tripolis, Tunis, in die Kabylei, nach Djerba und Marokko. Im Jahr 1929 veröffentlichte er die Monographie Musik des Orients (2) und den Beitrag Die Musik der aussereuropäischen Natur- und Kulturvölker im Handbuch der Musikwissenschaft (3). Seine Beschäftigung mit mittelalterlichen arabischen Traktaten zur Musik führte u. a. zu der Veröffentlichung von al-Kindīs Über die Komposition der Melodien (4). 1930 war er Mitbegründer der Gesellschaft zur Erforschung der Musik des Orients, zwischen 1933 und 1935 fungierte er als Herausgeber der Zeitschrift für vergleichende Musikwissenschaft (5). 1932 nahm er als Leiter der Phonogramm-Kommission am Kongress für arabische Musik in Kairo teil.

1933, nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten, wurde Robert Lachmann – der 1929 offiziell seinen Austritt aus der jüdischen Gemeinde erklärt hatte – im Alter von 41 Jahren „gemäß § 3 des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933 zum 1. Januar 1934 in den Ruhestand versetzt“ (6).

"Being ostracized from a society which one appreciated, trusted in, and believed oneself to have been an integral part, requires not only a reorientation to one’s own life, but to all that made it worthwhile. Different people reacted in different ways to this new situation, yet all those who had fully imbibed German culture, all who had embraced its enlightened features, felt betrayed. Lachmann was one of them." (7)

Ab 1934 steht Lachmann in Kontakt mit J. L. Magnes, seit 1925 Kanzler und ab 1935 Präsident der Hebräischen Universität Jerusalem, der ihn als Wissenschaftler für seine Hochschule gewinnen will. Für Lachmann bietet Palästina einen idealen Ort für seine Forschungen zu orientalischer Musik. Nach 14-monatigen Vorverhandlungen kommt  Lachmann schließlich im April 1935 in Begleitung eines technischen Assistenten in Jerusalem an und beginnt, das Archiv für Orientalische Musik (zunächst: Section for the Study of Non-European Music) aufzubauen, in das er viele Ergebnisse seiner bisherigen Arbeit wie auch eigene Ausstattung einbringt. Von seinen Tonaufnahmen und Forschungen in Palästina, von den Problemen und auch Erfolgen seiner Arbeit geben die Berichte, die er regelmäßig an Magnes schreibt, Zeugnis, ebenso der Briefwechsel, der in Jerusalem erhalten ist (8). Von Anfang an sind der Status des Archivs und seine finanzielle Ausstattung unsicher, eine Situation, die sich im Lauf der Jahre verschärft. 1938 schließlich verliert Lachmann seine Rentenzahlungen aus Deutschland, die bisher in die Finanzierung der Archivarbeit fest einkalkuliert waren, zudem schränkt ihn seine Erkrankung (die veröffentlichten Dokumente geben keinen Hinweis auf die Art dieser Erkrankung) immer mehr ein. Versuche, die Zeitschrift für vergleichende Musikwissenschaft wiederzubeleben, führen zu keinem Ergebnis. Am 8. Mai 1939 stirbt Lachmann in Jerusalem.

Ruth Katz beschreibt das Leben von Robert Lachmann, sein Vertriebenwerden aus dem etablierten deutschen Wissenschaftler-Dasein und sein Aufgeriebenwerden in der wissenschaftspolitischen Situation im damaligen Palästina, als „docudrama“: "The case may be read as personal tragedy, or as the pangs of the uprooted, or even as religious drama" (9).

Edith Gerson-Kiwi, deren Forschungsbibliothek mit einem Teil ihres Nachlasses im EZJM aufbewahrt wird, wendet sich durch die Zusammenarbeit mit Robert Lachmann im Archiv für Orientalische Musik selbst der Musikethnologie zu (10). Bereits kurz nach Lachmanns Tod ist sie als diejenige im Gespräch, die das Archiv weiterführen soll (11). Doch bedingt durch den Zweiten Weltkrieg und die Teilung Jerusalems nach dem Unabhängigkeitskrieg 1948 ist die Weiterführung der Arbeit zunächst schwierig: „For more than twenty years, roughly between 1940–1960, the Lachmann archive was virtually inaccessible“ (12). Edith Gerson-Kiwi baut ein neues Phonogramm-Archiv (13) auf, und erst Mitte der 1960er Jahre ist es möglich, das Lachmann-Archiv zu sichern und zu katalogisieren. Gerson-Kiwi veröffentlicht drei Schriften aus dem Lachmann-Nachlass: Die Ausgabe der einzigen Arbeit Lachmanns zur jüdischen Musik, der Gesänge der Juden auf der Insel Djerba, nach dem ursprünglichen deutschen Manuskript (die englische Ausgabe war 1940 kurz nach Lachmanns Tod mit einem Vorwort von J. L. Magnes herausgegeben worden, war aber unvollständig) (14), und zwei Aufsätze (15). Sie würdigt Lachmanns Wirken mit den Worten:

"Lachmann’s activities during his last four years in Jerusalem (1935–39), as head of the Archive, marked the beginning of modern ethnomusicology in Israel. [...] From being a recognized expert on Arab music and musical thought, Lachmann worked his way slowly toward Jewish music. But then it revealed itself to him in a new light." (16)

Susanne Borchers (2015)

 

Robert Lachmann

Ausschnitt eines Bildes aus dem Gerson-Kiwi-Archiv im EZJM

Bibliographische Angaben

(1) Zur Biographie Lachmanns im folgenden vgl.

Gerson-Kiwi, Edith: Two Anniversaries: Two Pioneers in Jewish Ethnomusicology. In: Orbis Musicae 2, 3–4 (1973/74), S. 17-28.
EZJM-Signatur: ZB 32

Gerson-Kiwi, Edith: Robert Lachmann: His Achievement and His Legacy. In: Yuval 3 (1974), S. 100-108.
EZJM-Signatur: A20 Yuv-3

Katz, Ruth: "The Lachmann Problem". An Unsung Chapter in Comparative Musicology. Including Unpublished Letters and Lectures of Robert Lachmann, Jerusalem 2003 (Yuval Monograph Series 12).
EZJM-Signatur: A2 2 Lac-1

(2) Lachmann, Robert: Musik des Orients, Breslau 1929.
EZJM-Signatur: B5 2 8

(3) Lachmann, Robert: Die Musik der aussereuropäischen Natur- und Kulturvölker, Wildpark-Potsdam, 1929 (Handbuch der Musikwissenschaft, hrsg. von Ernst Bücken).
EZJM-Signatur: B0 Büc-11

(4) Ja'qūb Ibn Isāq al-Kindī: Risāla fī hubr ta'līf al-alān. Über die Komposition der Melodien. Nach der Handschrift Brit. Mus. Or. 2361 mit Übersetzung, Einleitung und Kommentar sowie englischer Einführung herausgegeben von Robert Lachmann und Mahmud el-Hefni, Leipzig 1931.
EZJM-Signatur: B5 2 Ara (2)

(5) Zeitschrift für vergleichende Musikwissenschaft in Verbindung mit Erich M. von Hornbostel und Johannes Wolf herausgegeben von Robert Lachmann, 1 (1935) – 3 (1935).
EZJM-Signatur: ZB 62

(6) Die entsprechenden Dokumente sind abgedruckt bei Katz: „The Lachmann Problem“, Appendix I Document 6 (Austritt aus der jüdischen Gemeinde), Appendix I Document 3 und 1 (Versetzung in den Ruhestand).

(7) Katz: "The Lachmann Problem", S. 11.

(8) Die Dokumente sind abgedruckt bei Katz: "The Lachmann Problem".

(9) Katz: "The Lachmann Problem", S. 15.

(10) Sie verfasst einen Bericht über die Arbeit des Archivs:
Gerson-Kiwi, Edith: Jerusalem Archive for Oriental Music. Wege und Ziele des Jerusalemer Archivs für Orientalische Musik. In: Musica Hebraica 1-2 (1938), S. 40-42.
EZJM-Signatur: ZA 2

(11) Vgl. die entsprechenden Dokumente bei Katz: "The Lachmann Problem", S. 221 und S. 228f.

(12) Gerson-Kiwi: Robert Lachmann: His Achievement and His Legacy, S. 103.

(13) vgl. Gerson-Kiwi, Edith: Musicology in Israel. In: Acta Musicologica 30, 1-2 (1958), S. 17-26 und Shiloah, Amnon und Gerson-Kiwi, Edith: Musicology in Israel, 1960-1980. In: Acta Musicologica 53, 2 (1981), S. 200-216.
EZJM-Signatur: ZB 10

(14) Lachmann, Robert: Jewish Cantillation and Song in the Isle of Djerba, Jerusalem 1940.
EZJM-Signatur: A3 4 Lac (2)

Lachmann, Robert: Posthumous Works II edited by Edith Gerson-Kiwi. Gesänge der Juden auf der Insel Djerba, Jerusalem 1978 (Yuval Monograph Series 7).
EZJM-Signatur: A3 4 Lac

(15) Lachmann, Robert: Posthumous Works I edited by Edith Gerson-Kiwi. Zwei Aufsätze. Die Musik im Volksleben Nordafrikas. Orientalische Musik und Antike, Jerusalem 1974 (Yuval Monograph Series 2).
EZJM-Signatur: B5 3 2

(16) Gerson-Kiwi: Robert Lachmann: His Achievement and His Legacy, S. 102-103.

Last modified: 2022-03-29

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