Hanoch Avenary

Hanoch Avenary

Bei der Erschließung des Nachlasses der Musikwissenschaftlerin und Musikethnologin Edith Gerson-Kiwi, der sich im EZJM befindet, begegnet der Name Hanoch Avenary häufig: Beide wurden im Mai 1908 geboren, beide emigrierten Mitte der 1930er Jahre nach Palästina, und beide zählen zu den „Pionieren“ der Musikwissenschaft in Israel.

Hanoch Avenary (ursprünglich Herbert Loewenstein) stammt aus Danzig (1). Er studierte Musikwissenschaft, Literatur- und Kunstgeschichte in Leipzig, München, Frankfurt am Main und Königsberg. 1931 wurde er mit einer Arbeit über „Wort und Ton bei Oswald von Wolkenstein“ (2) in Königsberg promoviert. In den Jahren 1932 – 1936 war er als Verleger in Berlin tätig. 1936 emigrierte er nach Palästina. Da die Musikwissenschaft dort institutionell noch nicht etabliert war, konnte er seine Forschungen in den folgenden drei Jahrzehnten nur privat weiterführen. Hauptberuflich setzte er zunächst seine Arbeit als Verleger fort, ab 1941 arbeitete er in der Industrie. Im Jahr der Staatsgründung Israels 1948 trat er in die Forschungsabteilung der israelischen Luftwaffe ein, die er 1965 im Rang eines Majors verließ.
Mitte der 1960er Jahre fand die Musikwissenschaft in Israel ihren Platz an den Universitäten: zunächst in Jerusalem, gefolgt von Tel Aviv. Hanoch Avenary wandte sich nun hauptberuflich der Musikwissenschaft zu, wurde Wissenschaftler und Dozent an der Hebräischen Universität in Jerusalem, später in Tel Aviv. 1972, im Alter von 64 Jahren, wurde er in Tel Aviv zum Professor ernannt. Gastprofessuren führten ihn 1973 nach Wien und 1982/83 nach Heidelberg.

Avenarys Forschungsinteresse war breit gefächert, sein Schwerpunkt lag auf der Erforschung der jüdischen Musik. Der Sammelband „Encounters of East and West in Music“ (3), der eine Auswahl seiner Arbeiten enthält – darunter einige Artikel, die für diese Ausgabe aus dem Hebräischen ins Englische übersetzt wurden –, spiegelt seine Vielseitigkeit wider. H. Shmueli schreibt in der vorangestellten Würdigung:
„The symbolic significance of musical instruments, the relations of synagogue and church music, Biblical chant, the concept of modality in Jewish and Christian tradition, Hassidic song, mysticism and music, song in modern Israel – these are but a few of the avenues Prof. Avenary has explored over the years.“

Aus der in diesem Band angefügten Publikationsliste ist erkennbar, dass Avenary bis 1946 unter seinem Geburtsnamen Herbert Loewenstein veröffentlichte, ab 1950 als Hanoch Avenary. Dies lässt vermuten, dass er seinen Namen anlässlich der Staatsgründung Israels hebraisierte ('äwän-'ari ist die wörtliche Übersetzung von Löwenstein).

Zahlreiche Lexikonartikel, vor allem in der „Encylopaedia Judaica“, wurden von ihm verfasst. Auf dem Gebiet der jüdisch-liturgischen Musik veröffentlichte er u. a. zwei wichtige Werke: „The Ashkenazi Tradition of Biblical Chant between 1500 and 1900“ (4), in dem er die Motive der Bibelkantillation, wie sie von den christlichen Humanisten der frühen Neuzeit erstmalig notiert wurden, mit neuzeitlichen Notenschriften vor allem aus dem 19. Jahrhundert vergleicht und anhand statistischer Methoden untersucht, und seine Dokumentation „Kantor Salomon Sulzer und seine Zeit“ (5), die Leben und Werk des großen Wiener Reformators der Synagogenmusik in den Kontext zeitgenössischer Quellen stellt. Avenary edierte Werke des jüdischen Komponisten der Spätrenaissance Salamone Rossi (6) und gab einen kommentierten Notenband „Hebrew Hymn Tunes“ heraus (7).

Der im EZJM befindliche Nachlass Edith Gerson-Kiwis weist auf die langjährigen Kontakte und die Zusammenarbeit beider Forscher hin. Mehrere z. T. humorvolle „Geburtstagsgaben“ Avenarys an die „Mitstreiterin“ sind im Archiv erhalten. Beide Wissenschaftler wurden im Jahr 1978 durch die Israel Musicological Society, in der sie engagiert waren, mit Volume 1 der „Israel Studies in Musicology“ (8)  als „A Birthday Offering to Edith Gerson-Kiwi and Hanoch Avenary“ geehrt. Israel Adler schreibt im Vorwort:
„The work of Edith Gerson-Kiwi and Hanoch Avenary represents the cornerstone  of Israeli musicology. Their invaluable contribution to the various fields of Jewish and Near Eastern musical studies has aroused the unaminous [sic] respect and admiration of the younger generations of Israeli scholars who take pride in the international renown achieved by their elders.“

Der Sammelband „Essays in Honor of Hanoch Avenary“ aus dem Jahr 1991, der auch eine Liste seiner Publikationen ab dem Jahr 1978 enthält (9), ist derzeit (noch) nicht in der Bibliothek des EZJM zu finden.

Hanoch Avenary überlebte Edith Gerson-Kiwi um zwei Jahre. In seinem Todesjahr 1994 erhielt er – als erster Musikwissenschaftler – den Israel Prize für sein Lebenswerk. Sein Nachlass wird in der Musikabteilung der National Library in Jerusalem verwahrt.

Susanne Borchers (2015)

 

Hanoch Avenary

Bibliographische Angaben

(1) Die Informationen zur Biographie basieren auf den Lexikonartikeln zu Hanoch Avenary in: The New Grove Dictionary of Music and Musicians, Encyclopaedia Judaica (Second Edition) und Musik in Geschichte und Gegenwart (Zweite, neubearbeitete Ausgabe) sowie auf dem Nachruf von Edwin Seroussi: In Memoriam: Hanoch Avenary (1908 – 1994), in: Musica Judaica 13 (1993/94), S. 93–97.

(2) Herbert Loewenstein: Wort und Ton bei Oswald von Wolkenstein, Königsberg 1932 (Königsberger Deutsche Forschungen 11).
EZJM-Signatur: B1 3 Loe

(3) Hanoch Avenary: Encounters of East and West in Music. Selected Writings, Tel Aviv 1979.
EZJM-Signatur: B1 1 Ave

(4) Hanoch Avenary: The Ashkenazi Tradition of Biblical Chant between 1500 and 1900. Documentation and Musical Analysis, Tel Aviv 1978 (Documentation and Studies, Publications of the Department of Musicology and the Chaim Rosenberg School of Jewish Studies, Tel Aviv University 2).
EZJM-Signatur: A3 3 Ave

(5) Kantor Salomon Sulzer und seine Zeit. Eine Dokumentation. Herausgegeben und erläutert von Hanoch Avenary in Gemeinschaft mit Walter Pass und Nikolaus Vielmetti. Mit einem Beitrag von Israel Adler, Sigmaringen 1985.
EZJM-Signatur: A2 2 Sul (4)

(6) davon im EZJM vorhanden:
Hanoch Avenary (Hrsg.): Salamone Rossi Hebreo: Canzonette a 3 voci (1589), Tel Aviv 1975.
EZJM-Signatur: C2 Ros (2)
Hanoch Avenary (Hrsg.): Il secondo libro de madrigali a cinque voci di Salamon Rossi Hebreo. Con il Basso continuo per fonare in Concerto posto nel Soprano, & un Dialogo a otto nel fine (1602), Tel Aviv 1989.
EZJM-Signatur: C2 Ros (3)-2

(7) Hanoch Avenary: Hebrew Hymn Tunes. The Rise and Development of a Musical Tradition. Annotated Examples of Music written over a Span of Eight Centuries, Tel Aviv 1971.
EZJM-Signatur: A1 1 Ave

(8) Israel Studies in Musicology Vol. 1. A Birthday Offering to Edith Gerson-Kiwi and Hanoch Avenary, Jerusalem 1978.
EZJM-Signatur ZB 51

(9) Cohen, Judith (Hrsg.): Essays in Honor of Hanoch Avenary, Tel Aviv 1991 (Assaph Section A, Orbis Musicae 10).

Last modified: 2022-03-29

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