Alice Jacob-Loewenson
Alice Jacob-Loewenson
„Ihre musikalische Anlage war reich und vielseitig, ihr gleichzeitiges Wirken auf künstlerischen, pädagogischen und wissenschaftlichen Gebieten strahlte in vielen Richtungen aus, immer fördernd, positiv, schöpferisch erweckend für den Angesprochenen.“ – so leitet Edith Gerson-Kiwi ihren Nachruf auf Alice Jacob-Loewenson ein, die 1967 im Alter von 72 Jahren bei einem Aufenthalt in der Schweiz verstarb. (1)
Pianistin, Komponistin, Musikwissenschaftlerin, Pädagogin, Publizistin, Berlinerin, emigriert nach Palästina und am (musikalischen) Aufbau Israels beteiligt – der Parallelen im Leben dieser beiden bedeutenden jüdischen Forscherinnen sind viele, und alle Spuren deuten auf ein äußerst produktives, breit gefächertes Wirken hin.
Alice Jacob wurde am 12. Juli 1895 in Berlin geboren. (2) Die Eltern – der Vater Prokurist, die Mutter Mitbesitzerin der elterlichen Fabrik für textile Ritualgegenstände (3) – ermöglichten Alice wie auch ihrer Schwester Käthe eine hervorragende musikalische Ausbildung. Am renommierten Stern’schen Konservatorium studierte Alice Komposition bei Prof. Wilhelm Klatte und Klavier bei Prof. Leo Kestenberg. Entscheidenden Einfluss auf sie hatten auch die pädagogischen Klavierabende Ferruccio Busonis. Dazu schreibt Gerson-Kiwi: „Wer je die Lehrweise dieser beiden Klaviermeister kennengelernt hat, weiss, dass ihr Unterricht weit über den engen Bezirk des Klaviers hinausging, tief in die Probleme der Musikforschung und -Philosophie, der Musik-Geschichte und -Folklore hinein. So war es nur natürlich, dass Alice Jacob-Löwenson ihre Studien auch nach der wissenschaftlichen Seite hin erweiterte, durch Studien in der Vergleichenden Musikwissenschaft bei Prof. Curt Sachs, an der Berliner Universität.“(4)
Ab 1917 arbeitet Alice Jacob als Musikpädagogin und erteilt Klavierunterricht, Theorie und Gehörbildung. Bis 1933 wird sie die Lehre an der Schule der jüdischen Jugend in Berlin wesentlich mitgestalten. (5) Sie beginnt in den 1920er Jahren, sich insbesondere der jüdischen Musik zu widmen. Gerson-Kiwi weist darauf hin, dass zu einem wissenschaftlichen Schwerpunkt die Sammlung und Analyse chassidischer Musik wird, und: „Ihre Klavier-Abende und Vorträge über Jüdische Musik in Berlin, in anderen deutschen Städten und im europäischen Ausland, während der zwanziger Jahre, haben zum ersten Mal das Interesse eines grösseren Laien-Publikums auf das musikalische Phänomen einer jüdischen Musik gelenkt.“ (6)
Jascha Nemtsov berichtet, Jacob-Loewensons Vortragstätigkeit habe von 1929 bis 1933 über 150 Vorträge und Gesprächskonzerte in Deutschland, Polen, Jugoslawien, Frankreich, der Tschechoslowakei, England und Holland umfasst, wobei sie ihre Ausführungen nicht nur durch eigenes Klavierspiel, sondern auch durch den Einsatz von Schallplatten veranschaulichte. (7) Auch an der Jüdischen Volkshochschule in Berlin gab sie anspruchsvolle Kurse zu Aspekten jüdischer Musik, aber auch Hebräischunterricht. „Wie hoch das Niveau der Freien Jüdischen Volkshochschule damals war, kann man schon nach den Namen der Dozenten beurteilen, die dort gleichzeitig mit Jacob-Loewenson Vorlesungen hielten. Unter ihnen waren Leo Baeck, Martin Buber, der berühmte Kunsthistoriker Ernst Kohn-Wiener, Rabbiner Max Wiener und andere bedeutende jüdische Intellektuelle.“(8)
Geistigen Austausch mit einer Vielzahl von KünstlerInnen und Intellektuellen pflegte die Musikerin bereits in jugendlichem Alter. In den 1910er Jahren lernt sie im Kreis der expressionistischen „Neopathetiker“ AvantgardistInnen wie Else Lasker-Schüler oder Georg Heym kennen. Unter dem Pseudonym Golo Gangi gehört auch ihr späterer Mann, der Philosoph und Zionist Erwin Loewenson, dieser Gruppierung an. Sie heiraten 1922.
Dass auch Alice Jacob-Loewenson sich dem Zionismus verpflichtet fühlte, zeigt ihre langjährige Arbeit als Musikredakteurin und -kritikerin bei der Jüdischen Rundschau, dem Zentralorgan der Zionistischen Vereinigung für Deutschland, bis zu dem Verbot der Wochenzeitung durch die Nationalsozialisten 1938. Vor allem im musikalischen Beiblatt, das sie durchsetzte und verantwortete, veröffentlichte sie zahlreiche prägnante Artikel insbesondere zur neuen jüdischen Musik (9) – auch noch nach ihrer Flucht mit ihrem Ehemann aus Deutschland Ende 1933 nach Palästina. Nemtsov schreibt: „Unter den Autoren der Beilage waren zahlreiche bedeutende jüdische Musikerpersönlichkeiten, Komponisten, Musikwissenschaftler und Interpreten wie Erich (Eric) Werner, Arno Nadel, Erich Walter Sternberg, Karol Rathaus, Karl Salomon, Ernst Toch, Menasche Rabinowitz (Ravina), Joachim Stutschewsky, Alexander Jemnitz, Heinrich Berl, Oscar Guttmann, Hans Nathan, Peter Gradenwitz und viele andere. Neben Joachim Stutschewsky (1891–1982) gehörte Alice Jacob-Loewenson damit zweifellos zu den wichtigsten jüdischen Musikpublizisten.“ (10)
Die Anfänge in Palästina waren auch für eingewanderte Musikschaffende entbehrungsreich, wie Barbara von der Lühe in ihrer richtungweisenden Untersuchung darlegt (s. Anm. 2), aber „Dort erkämpfte sie [Alice Jacob-Loewenson] sich nach ihrer Einwanderung binnen weniger Jahre mit ihrer Lehrtätigkeit am Palestine Conservatoire, mit ihren Vorträgen und Konzerten und mit ihren eigenen Kompositionen ihren Platz im Musikleben.“ (11) Neben ihrer weiteren publizistischen Tätigkeit für die Berliner „Jüdische Rundschau“ und nach deren Verbot für die Pariser „Jüdische Weltrundschau“ sowie das Tel Aviver deutschsprachige „Mitteilungsblatt“ (MB) arbeitete sie auch für den Rundfunk. (12)
1943 veröffentlicht sie ihre Elementar-Klavierschule „Boker, Boker, ein Palästina-ABC für Klavier“ (13). In einer Rezension schreibt Gerson-Kiwi: „Alice Jacob-Löwensohn legt uns mit diesem Büchlein die erste palästinensische Klavierfibel vor, deren pädagogischer Lehrgang ganz auf dem Liedmaterial unseres Landes aufgebaut ist.“ (14)
Auch dieser Zeitungsartikel ist Teil des Nachlasses von Edith Gerson-Kiwi im EZJM.
Vera Ibold (2015)
Bibliographische Angaben
Hinweis zu den Zitaten: In der Sekundärliteratur finden sich unterschiedliche Schreibweisen des Namens von Alice Jacob-Loewenson.
(1) Edith Gerson-Kiwi: „Zum Gedenken. Alice Jacob-Löwenson“, MB Nr. 42 vom 27. Oktober 1967.
Ein Zeitungsausschnitt dieses Nachrufes, veröffentlicht im Tel Aviver deutschsprachigen „Mitteilungsblatt“ (MB), findet sich unter den zahlreichen Dokumenten in dem Teil des Nachlasses von Edith Gerson-Kiwi, der zur „Sammlung Andor Izsák“ gehört und derzeit vom EZJM erschlossen wird.
(2) Die biographischen Ausführungen stützen sich im Folgenden hauptsächlich auf den Nachruf durch Edith Gerson-Kiwi, die Monographie von
Barbara von der Lühe: Die Emigration deutschsprachiger Musikschaffender in das britische Mandatsgebiet Palästina, Frankfurt am Main u. a. 1999,
EZJM-Signatur: A1 5 Lüh
sowie den Beitrag von Jascha Nemtsov: „Eine Berliner Vorreiterin der Neuen Jüdischen Schule: Alice Jacob-Loewenson (1895–1967)“, in: Jascha Nemtsov (Hg.): Jüdische Kunstmusik im 20. Jahrhundert, Wiesbaden 2006, S. 121–135.
EZJM-Signatur: A4 Nem
(3) von der Lühe, S. 68.
(4) Gerson-Kiwi, Nachruf.
(5) von der Lühe, S. 69.
(6) Gerson-Kiwi, Nachruf.
(7) Nemtsov, S. 128.
(8) Nemtsov, S. 129.
(9) Nemtsov, S. 126.
(10) Nemtsov, S. 126.
(11) von der Lühe, S. 70.
(12) Über den Palestine Broadcasting Service und Jacob-Loewensons Beiträge vgl. insbesondere von der Lühe,
Kap. 2.
(13) Alice Jacob-Loewenson: „Boker, Boker“ Alef Beth Erez Israeli Lep’santer, Jerusalem 1943 (Literaturangabe nach Gerson-Kiwi. In der israelischen Nationalbibliothek wird die Publikation mit dem Erscheinungsjahr 1942 nachgewiesen).
(14) Edith Gerson-Kiwi: „Klavierschule auf hebräisch“, in: MB Nr. 17 vom 23. April 1943.
Last modified: 2022-03-29
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