German Jewish Sacred Musical Intersections
"German Jewish Sacred Musical Intersections"
Projektlaufzeit:
1. Juli 2019 bis 30. Juni 2022
Kooperationspartner:
Hebräische Universität Jerusalem: Prof. Edwin Seroussi, Jewish Music Research Center
Ziel des Projektes war es, die deutsch-jüdische (aschkenasische) liturgische Musik vom frühen 19. Jahrhundert bis zum Zweiten Weltkrieg zu lokalisieren, abzubilden, zu analysieren, in ihrem breiteren europäischen kulturellen Kontext zu interpretieren und nicht zuletzt der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Die Synagogen wurden dabei nicht nur als rituelle Räume betrachtet, sondern vielmehr als Orte der durch Musik vermittelten öffentlichen Darstellung neuer, sich wandelnder ästhetischer Ideale und interkultureller Schnittstellen zwischen Juden und ihrer nichtjüdischen Umgebungsgesellschaft.
Jahrhundertelang hatte die Mehrheit der Juden in Europa ein Leben in gesellschaftlicher Isolation geführt: Antijüdische Maßnahmen wie Niederlassungsverbote, Verbot des Landerwerbs, fehlende Freizügigkeit, Sondersteuern oder Beschränkung der beruflichen Tätigkeiten zwangen sie zu einer Existenz an der Peripherie der Umgebungsgesellschaft. Zu den Diskriminierungen gesellten sich Gewalt, Verfolgung und Austreibung. Erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts kamen mit der Aufklärung und der Französischen Revolution Debatten auf, die mit europaweiter Wirkung zur bürgerlichen Gleichstellung der Juden führten.
Der allmähliche Eintritt in die bürgerliche Gesellschaft war für die Juden mit großen sozialen und kulturellen Veränderungen verbunden. Vielfältige Aushandlungsprozesse zwischen dem Bewahren des jüdischen Erbes und dem Anschluss an bürgerlich-christliche Standards setzten ein, die alle Bereiche des Jüdischseins erfassten. Während traditionsorientierte Juden auf der Einhaltung der religiösen Regeln des traditionellen rabbinischen Judentums beharrten, gingen progressive Juden bewusst auf die umgebende Gesellschaft zu und initiierten teils moderate, teils extreme Reformen in Bereichen, die früher durch rabbinische Vorschriften geregelt waren, wie Bildung, Erziehung und religiöse Praxis.
Der Weg vom Rand in die Mitte der Gesellschaft führte auch über den Ritus und seine Musik. Seit Jahrhunderten hatte sich für den Gottesdienst eine feste Form etabliert, deren Kennzeichen der Wechselgesang zwischen Chasan (Vorbeter) und (männlicher) Betergemeinschaft, das individuelle Gebet, die rein vokale Ausführung und die mündliche Überlieferung sind; neben der hebräischen Sprache verweisen freie Rhythmik und Metrik, reich ornamentierte Melodien oder die Kunst der Improvisation noch auf die mystische Herkunft aus dem Orient. Seit dem zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts entwickelte sich ein neues Paradigma jüdischer liturgischer Musik mit Zentren in Wien, Berlin und Paris, deren Vertreter den Anschluss an das universale Gebäude der europäischen Kunstmusik suchten. In Anlehnung an den protestantischen Gottesdienst (vor allem in Norddeutschland) hielten nun Orgel, professioneller Chor, deutsche Sprache und Komposition Einzug in den Ritus; individuelle Freiheit und Improvisation wurden weitgehend zurückgedrängt, dem Vorbeter kam die Funktion des christlichen Kantors zu. Damit schafften die Reformer den alten Ritus jedoch nicht vollständig ab – vielmehr bezogen sie auf ihrem Weg zwischen Bewahrung und Modernisierung zwischen zwei Polen Stellung: Auf der einen Seite steht der traditionelle Gottesdienst als ein soziales Ereignis, das davon lebt, dass die Gemeinde es aktiv mitgestaltet; auf der anderen Seite steht der Reformgottesdienst als ästhetisches Ereignis, bei dem die Gemeinde weitgehend passiv bleibt.
Insbesondere in Deutschland, wo die Reformbewegung ihren Ausgang nahm, bildeten sich im Dialog mit den Zentren weitere lokale Repertoires reformorientierter synagogaler Musik heraus. Ermöglicht wurden solche Entwicklungen durch die Bildung eines Netzwerks aus einzelnen Musikern, die in verschiedenen Beziehungsgeflechten zueinander standen wie etwa Lehrer – Schüler, Solist – Chormitglied, Mitgliedschaft in Berufs- oder Interessensverbänden etc. Sie förderten die neuen ästhetischen Ideale des Ritus mittels Veröffentlichung und Vertrieb von Musik, Gründung kantoraler Schulen und Vereinigungen sowie Diskursivierung in der jüdischen Fach- und allgemeinen Presse. Für den untersuchten Zeitraum ist festzuhalten, dass insbesondere die Rezeption und die Kritik der Presseberichterstattung wesentliche Faktoren für die Konsolidierung jener Narrative waren, die die musikalischen Veränderungen in den Synagogen trugen und anregten.
Das Projekt konnte auf eine Fülle von unbekannten oder wenig erforschten musikalischen Quellen in Bibliotheken und Archiven in Europa, Israel und den Vereinigten Staaten zurückgreifen, insbesondere auf gedruckte und handgeschriebene Noten, Archivaufnahmen, private Nachlässe von Komponisten, Kantoren und Chorleitern sowie Kantorenzeitschriften. Obwohl der Schwerpunkt des Projektes vor allem auf der Vergangenheit liegt, sind seine Ergebnisse relevant für die Gegenwart und Zukunft der aschkenasischen liturgischen Musik in Europa und darüber hinaus. Denn in den heutigen aschkenasischen Gemeinden beginnen sich, Jahrzehnte nach ihrer fast vollständigen Vernichtung und nach Jahren der Konsolidierung neuen jüdischen Lebens, Dynamiken abzuzeichnen, die zu einem erneuten Aushandeln zwischen Bewahrung und Erneuerung, Tradition und Kreativität führen.
Eine Reihe von Wissenschaftler*innen und Musiker*innen hegen indes eine verklärte Sicht auf die aschkenasische liturgische Musik: Die Tradition der Reform, die mit der Vernichtung des jüdischen Lebens durch die Schoa abgerissen ist, wird von ihnen als die jüdische Tradition schlechthin verstanden. Der Verlust der Traditionen und Erinnerungen durch den Nationalsozialismus und die Schoa gilt als der Verlust einer einzigartigen jüdischen Identität, dem man mit der Wiederherstellung ihres einstigen Glanzes begegnen muss – ein Heraufbeschwören jüdischer Vergangenheit, das der jüdischen Gegenwart jedoch nicht gerecht wird. Andere wiederum machen geltend, dass die Zukunft von Repertoires und Aufführungspraktiken nur durch eine tiefgreifende Erneuerung sichergestellt werden kann, durch einen Prozess, der auf die ästhetische Sicht der Dinge der jetzigen Generation eingeht. Das Kooperationsprojekt zwischen Hannover und Jerusalem versucht hingegen mit seinem Ansatz, diese entgegengesetzten Sichtweisen zu verschmelzen. Die Mitarbeiter*innen glauben, dass das Wiederaufleben der aschkenasischen Synagoge und das wachsende Interesse an ihrem musikalischen Repertoire sowohl in praktischer als auch in theoretischer Hinsicht von den Ergebnissen eines solchen integrativen Projekts profitieren kann.
Zu den Projektleiter*innen
Prof. Dr. Sarah Ross ist Professorin für Jüdische Musikstudien und Direktorin des Europäischen Zentrums für Jüdische Musik (EZJM) der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover (HMTMH). Neben der Leitung des EZJM ist sie seit März 2021 Sprecherin des DFG-Schwerpunktprogramms „Jüdisches Kulturerbe“ (SPP 2357). Ihre Forschungsschwerpunkte sind jüdische Musik als immaterielles Kulturerbe und kulturelle Nachhaltigkeit, jüdische Gegenwartsforschung, Wissenschaftspolitik und musikethnologische Genderstudien.
Prof. Dr. Edwin Seroussi ist Emanuel-Alexandre-Professor für Musikwissenschaft und Direktor des Jewish Music Research Centre der Hebräischen Universität Jerusalem. Geboren in Montevideo, Uruguay, wanderte er 1971 nach Israel ein, wo er an der Hebräischen Universität ein Grund- und Aufbaustudium in Musikwissenschaft absolvierte. 1987 wurde er an der University of California Los Angeles promoviert. Er lehrte an den Universitäten Bar Ilan und Tel Aviv in Israel und war Gastprofessor an Universitäten in Europa, Nord- und Südamerika. Zu seinen zahlreichen Publikationen zählen insbesondere Studien zur jüdischen Musik Nordafrikas und des östlichen Mittelmeerraumes, zu jüdisch-islamischen Beziehungen in der Musik und zur israelischen Popularmusik.
Kontakt
Prof. Dr. Sarah M. Ross
Direktorin des EZJM
T. +49-(0)511-3100-7120
E-Mail: Prof. Dr. Sarah M. Ross
Projektförderung
International open study session: 21. November 2021
Zuletzt bearbeitet: 06.12.2022
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