Nachlass Peter Ury

Peter Ury 1944, als deutscher Staatsbürger in britischer Internierungshaft in Toronto, Kanada. Copyright: Tanya Ury

Annäherung an Peter Ury (1920–1976)

Text von: Natalia Bartos, Dorothea Gertler, Franziska Giesemann, Maya Krabbe und Jiaqian Wu. Redaktion: Dr. Regina Randhofer / Samuel Mund.

„Wenn du jemandem hilfst, hilfst du ihm zu erwachen.“ – Als die Nachricht eintraf, dass der umfangreiche Nachlass des deutsch-jüdischen Komponisten Peter Ury auf Wunsch seiner Tochter Tanya dem Europäischen Zentrum für Jüdische Musik (EZJM) der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover überantwortet werden sollte, wusste keiner, wohin damit. Die Post kam aus Köln, wo das Stadtarchiv eingestürzt war, das den Nachlass des Komponisten beherbergt hatte. Viele Dokumente und Erinnerungen, die das Leben und Werk von Peter Ury bezeugen, waren beim Einsturz stark beschädigt worden. Ohnehin war Ury nahezu unbekannt: Es gab kaum öffentlich zugängliche Noten oder Hörbeispiele, auch im Internet fanden sich nur spärliche Informationen über ihn. Aufgrund der Bitte Tanya Urys, sich des Nachlasses ihres Vaters anzunehmen, stand das EZJM vor der großen Aufgabe, die Materialien würdig zu bewahren und zu veröffentlichen. Der folgende Artikel ist ein Versuch, Peter Ury hör- und sichtbar zu machen.

Biographischer Überblick

Peter Ury wurde am 3. November 1920 als Kind des jüdischen Kinderarztes Sigmar Ury und dessen Frau Hedwig in Ulm geboren. In der Wohnung der Familie wurde für den musikalisch begabten Peter das Eckzimmer mit einem Flügel für kleine Konzerte ausgestattet. Im März 1939 floh Peter Ury allein aus Nazi-Deutschland nach England, wo er unter anderem als Übersetzer für die britische Armee arbeitete. Außerdem komponierte er zahlreiche Lieder und Musiktheater, die in unterschiedlichsten Umgebungen aufgeführt wurden. 1950 heiratete Peter Ury die jüdische Immigrantin Sylvia Unger, mit der er drei Kinder bekam: Nini, Tanya und David. Ein wichtiges Thema für Peter Ury war die Verbindung zu seiner Heimatstadt, die er schon mit einem Besuch kurz nach dem Krieg im Jahr 1945 wiederherzustellen versuchte. Im selben Jahr stellte er einen Wiedereinbürgerungsantrag, der ihm nach langem Hin und Her erst am 31. Oktober 1966 bewilligt wurde. Peter Urys' Lebensmittelpunkt blieb somit dauerhaft London, wo er zehn Jahre später, am 20. September 1976, starb.

Flucht aus Deutschland

Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurde auch in Ulm das Klima für die jüdische Bevölkerung zusehends schwierig. Alsbald stand Sigmar Urys Name auf der Liste der Juden, die boykottiert werden sollten. Obwohl Ury als ehemaliger Frontkämpfer vorerst von Berufsverbot und Kassenausschluss für Ärzte ausgenommen war, sorgte spätestens 1935 ein Aufruf im Stürmer für den Boykott der Familie Ury. Anfängliche Hoffnungen auf eine Besserung der allgemeinen Lage schwanden in den darauffolgenden Jahren und so beschloss auch die Familie Ury, Deutschland den Rücken zu kehren. Vater Sigmar Ury war jedoch an Nierenkrebs erkrankt und damit zu schwach, um sich auf eine Flucht zu begeben. Seine Frau Hedwig wollte bei ihrem Mann bleiben, um ihn zu pflegen. Sohn Peter war mit seinen inzwischen 18 Jahren wiederum zu alt, um Deutschland mit einem Kindertransport zu verlassen. Aber schließlich konnte ihm ein Ehepaar aus der Religionsgemeinschaft der Quäker zur Immigration nach England verhelfen. Peter Ury sollte seine Eltern nie wieder sehen. Über seine letzte Begegnung mit seiner Mutter schrieb er später: „Ach, wie war es doch, als ich am 22. März 1939 von Ulm abfuhr, da schaute sie mir mit starren Augen nach, ich, der ich so grausam von ihr wegfuhr. War das also das letzte Lebewohl?“

Leben in London

Peter Urys neuer Wohnstätte in England sollte zunächst als Zwischenstopp dienen, bis der Krieg vorüber war. Er konnte nicht ahnen, dass er dort den Rest seines Lebens verbringen würde. Während er nun also versuchte, sich mit einem neuen Job in England zurechtzufinden, durchlief er auch musikalisch eine Identitätskrise: In seinen Texten zur Musik verarbeitete er die Flucht aus Deutschland sowie seine religiöse Herkunft. Während dieser Zeit lebte Peter Ury in einer Wohngemeinschaft mit seinem später wohl wichtigsten Freund und Berufskollegen, dem Theaterregisseur Peter Zadek. So entstanden viele gemeinsame Projekte, in denen sich Ury auf die Musik und Zadek auf die Dramaturgie konzentrierte. Ury lernte in London seine spätere Frau Sylvia kennen, die gemeinsame  Familiengründung festigte die Verbundenheit mit der neuen Heimat.

Berufliche und soziale Kontakte

Durch die Bekanntschaft mit Sylvias Familie ebneten sich dem jungen Peter neue Wege und Möglichkeiten für seine berufliche Karriere: Während Sylvias Vater Alfred H. Unger Schriftsteller, Bühnenautor und Chefdramaturg des Filmunternehmens UFA war, arbeitete dessen Bruder Wilhelm Unger als Autor, Journalist und Theaterkritiker. Beide lieferten wichtige Impulse für Urys kreative Arbeit als Musiker und auch als Journalist. Die Brüder Unger und Peter Ury arbeiteten nach ihrer Immigration bei Englands populärsten Rundfunkdienst, der BBC. Ury hoffte, es sei nur eine Frage der Zeit, bis seine Werke entdeckt würden. Einer seiner wichtigsten beruflichen Partner und langjähriger Freund wurde der oben bereits genannte berühmte deutsche Regisseur und Theaterintendant Peter Zadek, dem Ury eines ihrer bedeutsamsten gemeinsamen Werke, die Oper Timothy, vererbte. Zadek erwähnt Ury auch in seinem biographischen Werk My Way und spricht dort über die gemeinsame Zeit in London.

Ein weiterer wichtiger Kontakt war das Kölner Ehepaar Lotte und Ernest Berk. Mit beiden – Lotte war Tänzerin, Ernest Komponist und Choreograph – absolvierte Peter Ury viele gemeinsame Auftritte. Ury komponierte für die Choreographien der beiden einige Klavierstücke. Die Musik wurde von Ernest Berk auch aufgenommen, doch sind die Tonaufnahmen irreparabel beschädigt. Das herausragendste Werk hierbei ist The Family Suite.

Die Musik von Peter Ury

Im Nachlass von Peter Ury finden sich sowohl Manuskripte als auch Nachdrucke seiner Kompositionen. Die größte Sammlung mit dem Titel Kinderlieder beinhaltet 23 Lieder mit Klavierbegleitung sowie eine Piano Sonata in drei Sätzen und das Lullaby for Tanya. Die Lieder nehmen Motive der Romantik auf, wie beispielsweise die Nacht, die Liebe oder die Sehnsucht nach der Heimat. Seine Tochter Tanya Ury beschreibt seinen Musikstil als spätromantisch. Die Texte seiner Lieder stammen von bekannten jüdischen Dichter:innen wie beispielsweise Erich Fried, Else Lasker-Schüler und Saul Tschernichowsky, außerdem von Peter Ury selbst. Es finden sich viele Kompositionen mit religiösen Themen, etwa das Singspiel Der Judaskuss, die Judaspassion und 3 Songs for Shoshanah (Musik für ein jüdisches Fest). Von Ury ist außerdem seine unvollständige Symphony No. 1., das Ballett The Enchanted Apple und eine Serenade for Strings überliefert. Mit seinem Freund Peter Zadek komponierte er die Oper Timothy, die auf der Geschichte Heinzelmeier von Theodor Storm basiert. Ury schrieb außerdem die Musik für das Theaterstück The Brothers, das von Zadek produziert und im Watergate Theatre in London mehrmals aufgeführt wurde.

Ury sagte 1960 in einem Artikel im Kölner Stadtanzeiger über seine Musik, dass er „nicht um jeden Preis modern sein“ möchte, und gibt zu, dass es Anklänge an Mahlers Musik geben könne. Doch besteht er darauf, nicht in ein Schema eingeordnet zu werden, und beschreibt sich je nach Herausforderung als stilistisch flexibel.

Remigration

Auch wenn Peter Ury mit seiner Familie in London ein Leben fernab des Krieges führte, konnte er sich nicht mit dem Gedanken anfreunden, für immer dort zu bleiben. Die unfreiwillige Flucht und der abrupte Abschied von seinen Eltern beschäftigten ihn bis zum Ende seiner Tage, weswegen er versuchte, nach Deutschland zurückzukehren. Dies endete in einem aufwändigen Briefwechsel zwischen ihm und dem Bürgeramt in Köln, das ihm die Rückkehr zusätzlich erschwerte. Zunächst bekam Ury nur eine Einbürgerungsurkunde, obwohl er vor dem Krieg bereits die deutsche Staatsbürgerschaft besessen hatte. In einem Brief von 1967 erklärte Ury, dass es sich in seinem Falle jedoch um eine Zurückerwerbung seiner Staatsbürgerschaft handele, da er diese von Geburt an bis 1940 bereits besaß, sie ihm aber unter der Naziherrschaft aberkannt wurde. Was aus diesem Anliegen wurde, ist bisher noch nicht bekannt.

Schattenseite

Auch wenn es den Anschein macht, als habe Peter Ury eine beachtliche Karriere hingelegt, musste er zahlreiche Tiefschläge hinnehmen. Viele seiner Stücke wurden von Plattenfirmen, Verlagen und Veranstaltern abgelehnt, da seine Musik nicht den kommerziellen Anforderungen entsprach. Damit war nicht gemeint, die Musik sei ungewöhnlich schräg, sondern sie sei im Gegenteil nicht extrovertiert genug, um sie zwischen anderen Kompositionen seiner Zeit dem Publikum zu präsentieren. Dies hatte zur Folge, dass sich heute kaum jemand an Peter Ury oder an seine seltenen Konzerte erinnert. Ury gelang es folglich nicht, eine Hörerschaft zu erreichen, die ihm den Erfolg beimessen konnte, der ihm musikalisch eigentlich zustünde. Es hat den Anschein, dass Ury angesichts seiner vielfältigen beruflichen Tätigkeiten als Journalist, Komponist, Dolmetscher, Musiklehrer und Musikkritiker durchaus Ansehen genoss, seine musikalischen Qualitäten hingegen kein Gehör fanden.

Auch wenn der Einsturz des Kölner Stadtarchivs viele Erbstücke und Originalquellen zerstörte, so hat der Nachlass Peter Urys durch den Umzug ins EZJM in Hannover den Impuls zu einer Wiederentdeckungsinitiative gegeben.

Das, was Peter Ury hinterlässt, sind größtenteils unerforschte Musikstücke, die insofern von Interesse sind, als sie eine Zeit markieren, in denen vielen Künstler*innen aufgrund ihres Exils unter großen beruflichen Einschränkungen und Schwierigkeiten litten. Peter Urys' Schicksal war es, dass niemand sich zu seinen Lebzeiten bereit zeigte, seine Musik als das zu schätzen, was sie ist: ein Teil lebendiger und lebhafter, aber auch tragischer Musikgeschichte.

Zur Sammlung Peter Ury

Zu den technischen Daten der Sammlung
Umfang: ca. 192 Archivkartons
Zeitspanne: ca. 1940er bis 1960er Jahre
Sprachen: Deutsch, Englisch, Hebräisch
Verfasser: Peter Ury

Inhalt der Sammlung

Der Nachlass des deutsch-jüdischen Komponisten Peter Ury umfasst seine handschriftlichen und gedruckten Werke sowie Aufzeichnungen und Skizzen dazu. Des Weiteren sind enthalten: Korrespondenz an und von Peter Ury, private und berufliche Lebensdokumente, Fotografien, Bücher, Zeitschriften, Tonträger, weiteres Notenmaterial sowie Objekte und nicht weiter klassifizierte Dokumente. Neben dem Bestand, den das EZJM aus dem Kölner Stadtarchiv übernommen hat, beinhaltet die Sammlung auch drei Kartons, die von der Wiener Holocaust Library in London an das EZJM überstellt wurden. Diese enthalten ebenfalls Korrespondenz an Peter Ury, Konzertprogramme, Notizen und Manuskripte, einige Partituren seiner Werke, Musikübungen, Presseausschnitte sowie verschiedene Mitglieds- und Personalausweise von Alfred und Ernina Unger (die Eltern von Peter Urys Frau Sylvia). Der Londoner Bestand umfasst die Jahre 1927 bis 1960.

Eine Übersicht zu den „Kölner“ Bestandteilen sowie zum „Londoner“ Bestandteil der Sammlung können Sie hier einsehen.

Timothy, Akt 1, Sz. 1: Mother "On the sixth day of creation"; Komponist: Peter Ury; Libretto: Peter Zadek (nach: Hinzelmeier. Eine nachdenkliche Geschichte v. Theodor Storm, 1852); Mother (Alto); Pamela Bowden (?), 1957; digit.: 2022. © Fam. Ury / EZJM

Die Wege der Sammlung Peter Ury

Nach dem Tod von Peter Urys Frau Sylvia, geborene Unger (1926–1998), beschlossen die Kinder Tanya, Nini und David im Jahr 1999, das umfangreiche Archiv ihrer Familie ans Kölner Stadtarchiv zu übergeben. Das Familienarchiv umfasste neben wenigen Dokumenten und Objekten zu Mitgliedern der Kölner Familie Unger vor allem den Nachlass des in Ulm geborenen Komponisten und Journalisten Peter Ury.

Das Historische Archiv der Stadt Köln ist „eines der bedeutendsten europäischen Kommunalarchive“. Es ist als solches nicht nur das schriftliche Abbild des „Kölner Stadtgedächtnisses“, sondern beherbergt auch Nachlässe und Sammlungen bedeutender Persönlichkeiten aus der Region, wie etwa Alfred H. Unger, der deutsche Schriftsteller, Bühnenautor, ehemalige Chefdramaturg der UFA Berlin sowie Großvater von Tanya, Nini und David Ury. Bereits gegen Ende der 1990er Jahre befanden sich somit Teilnachlässe der Familie Unger im Bestand des Kölner Archivs. Neben diesem Umstand trug auch der Umzug der Performance-Künstlerin Tanya Ury (*1951) 1993 von London nach Köln zur Entscheidung bei, die Sammlung ans Kölner Archiv zu geben. Der Grund für Tanya Urys Umzug war ihr Wunsch, ihre Familiengeschichte im Zusammenhang mit der Shoah aufzuarbeiten. Der Nachlass am Kölner Stadtarchiv umfasste nicht nur Dokumente der mit Köln verbundenen jüdischen Familie Unger und die Sammlung Peter Ury, sondern vielmehr authentische Zeugnisse deutsch-jüdischer Exil-Kulturschaffender, die unter Zwang ihre deutsche Heimat verlassen hatten.

Am 3. März 2009 stürtze das Kölner Stadtarchiv ein. Fast der gesamte Bestand aus über 1.200 Jahren Stadt-, Regional- und Kirchengeschichte rutschte in einen riesigen Krater, der durch mangelhaft durchgeführte Bauarbeiten für eine neue U-Bahn-Linie entstanden war. Infolgedessen konnte nur ein Bruchteil der „Sammlung Ury“ gerettet und aufwändig restauriert werden. Im Jahr 2014 war dies zu etwa 75% gelungen. Was „Archiv“ und „Archivieren“ tatsächlich bedeutet, wurde Tanya Ury, die sich seither mit großem Engagement für den Erhalt des Archivs ihrer Familie einsetzt, erst nach dem Einsturz und angesichts des teilweisen Verlustes wichtiger Familienpapiere voll umfänglich bewusst. Denn in den Kartons und Mappen sind nicht einfach nur Dokumente archiviert, sondern auch Erinnerungen und Emotionen, teilweise auch mit traumatischen Erfahrungen infolge der Shoah – ein Umstand, den zukünftige Nutzer:innen, die mit der Sammlung Ury am EZJM arbeiten werden, sich bewusst machen sollten. Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass David Ury 2012 auch einige Kartons mit Dokumenten zu Peter Urys Leben und Schaffen an die Londoner Wiener Holocaust Library gab, eines der weltweit führenden und umfangreichsten archivalischen und bibliothekarischen Sammlungen zur Dokumentation der Judenverfolgung unter den Nationalsozialisten und ein bedeutendes Zentrum der Holocaustforschung.

Im Januar 2018 teilte das Kölner Archiv den Erben mit, dass die Überreste des Nachlasses von Peter Ury nicht weiter Teil des Bestands des Kölner Archivs sein würden. Den Nachlass des Großvaters mütterlicherseits, Alfred H. Unger, wollte das Kölner Archiv jedoch weiterhin behalten. Im Sommer 2018 trafen Prof. Dr. Sarah Ross und ihr Team Tanya Ury zufällig auf einer Konferenz in London und kamen mit ihr ins Gespräch. Bereits im Herbst desselben Jahres besuchte Tanya Ury das EZJM und es fanden erste Gespräche bezüglich der Übernahme der Sammlungen statt. Nach wenigen Jahren des Auslotens der Möglichkeiten, der Ausformulierung von Verträgen und der Generierung adäquater Unterbringungsmöglichkeiten erreichte die Sammlung Peter Ury im Frühsommer 2021 schließlich das EZJM. Weitere Nachlassteile aus der Wiener Library in London folgten im Herbst 2021.

Ausgewählte Innenansichten: Three Songs For Shoshanna

Unter Peter Urys Kompositionen, die im Nachlass enthalten sind, befindet sich ein Werk, das er mit Three Songs for Shoshanna betitelte. Die vorhandenen Noten weisen kein Datum oder sonstige Anhaltspunkte auf, wann genau die Lieder geschrieben wurden. Ury widmete die Lieder seiner Frau Sylvia Ury. Die hebräischen Liedtexte sind mit Klezmer-nahen musikalischen Elementen unterlegt. Peter Ury hat sich selbst nicht als einen prononciert „jüdischen Komponisten“ verstanden, dennoch weist sein Werk punktuell filigrane Auseinandersetzungen mit der jüdischen Kultur und Religion auf.

Das Werk ist in drei kurze Lieder gegliedert, die die Titel „Shoshanna (The Rose),“ „Shoshanna II (Of all Flowers in the Garden it is the Rose I love)“ und „R’itiha (I saw her ...)“ tragen. Jedes Lied verfügt neben den hebräischen Liedtexten von Saul Tschernichowsky (einem bedeutenden und einflussreichen hebräischen Lyriker des 20. Jahrhunderts) auch über eine englische Übersetzung, die von Sylvia Ury selbst verfasst wurde.

1.
A rose with charm divinely blessed
for every man doth bloom
some spend their lives upon their quest
but some do find her soon

We wander each upon our path
until our last repose
and yet each flower we meet we ask
„are you my rose?"

Oh, happy he that finds his rose
And plucks her while he may
But woe to him, who as he goes
Passes her on his way.

2.
Of all flowers blossoming in the garden
It is for the rose I long
And of all blossoms
It is but the rose I love

Every morn at daybreak
I go out into the garden
And of all the flowers covered with dew
It is to the rose I go.

3.
I saw her as she went to the well to fetch water:
I embraced her as she went to the well to fetch water.
I kissed her as she went to the well to fetch water.

Das erste Stück, „Shoshanna“ beginnt mit schlichten Arpeggio-Harmonien, die durch die linke und rechte Hand im Klavier wandern. Dabei erklingen abwechselnd F-Dur, Ges-Dur und Es-Dur – obwohl das Stück augenscheinlich in Des-Dur geschrieben ist, wirkt bereits der Anfang verschwommen, ohne Tonartbekenntnis. Nach drei Takten mit Arpeggi setzt die Gesangsstimme mit dazu passenden Tonrepetitionen ein und formt den ersten Satz des Gedichtes von Tschernichowsky.

Die Takte wechseln stetig zwischen Drei-Viertel und Vier-Viertel-Takt, sodass es zu einer ständigen Schwerpunktverlagerung kommt, was einen drängenden, nicht ganz eindeutigen Stil erzeugt. Nachdem die erste Gesangsphrase verklungen ist, wird die Melodie in der rechten Hand mit Oktavparallelen imitiert. Sobald dort der letzte Ton erklingt, wechselt die Form. In der linken Hand des Klaviers werden zunächst die gebrochenen Akkorde noch figuriert, aber mit Auftakt der Gesangsstimme erklingen nun ausgehaltene Harmonien, auf denen sich die Stimme fast Capriccioso- bzw. Cadenza-artig bewegt.

In Takt 14 verdoppelt die rechte Hand die Melodiestimme und beendet mit einer relativ schlichten Abwärtslinie den ersten Teil des Liedes. Im Folgenden beginnt der nächste Abschnitt, der wie eine vermeintlich zweite Strophe des eben Musizierten erscheint. Die erste Phrase wird auch ähnlich der vorherigen mit einfachen Tonrepetitionen in der Gesangsstimme wiedergegeben. Allerdings folgt nun nicht wie in der ersten Strophe eine Wiederholung dieser kurzen Phrase im Klavier, stattdessen wird der folgende Part der Gesangsstimme vorweggenommen und in eigener Capriccioso-Manier variiert.

Es entsteht wieder eine Art Dialog, wobei dieses Mal die Gesangsstimme auf die Klaviermelismen antwortet. Abgeschlossen wird dieser Teil ähnlich der ersten Strophe, allerdings auch hier in etwas verzierter Form durch zusätzliche Glissandi in der Gesangsstimme und einer in Terzen angesetzten Oberstimme in der rechten Hand.

Wieder beginnt der nächste Teil mit den Arpeggi von F-Dur, Ges-Dur und Es-Dur. Doch statt einer dritten Strophe baut sich nun der Höhepunkt des Liedes auf: Bereits im ersten Gesangseinsatz, der mit forte betitelt ist, wird die Dramatik durch einen exponierten Oktavsprung unterstützt. Im Klavier erklingen im fortissimo Akkordrepetitionen, die einen vollen Klang auf beiden Seiten erzeugen. In Takt 35 lösen die gebrochenen Akkorde diese Spannung leicht auf, endend auf einer piano-Fermate auf b2. Die nächste Welle beginnt in der Gesangsstimme mit „uv sha’ato kataph su“. Allerdings ist diese weniger intensiv als die vorherige und wird schnell durch aufsteigende Arpeggi und ein Decrescendo im Klavier aufgelöst. Der darauffolgende Oktavsprung auf „W’ oi lo“ hat eine noch kürzere Anschwelldauer in der Dynamik und geht bereits im Takt 40 auf der zweiten Zählzahl vom sforzato ins piano zurück. Die kapriziöse Figuration der vorherigen Strophen klingt wieder durch, mit dynamischen Crescendo-Decrescendo-Wellen. Doch man hört bereits, dass diese Wellen immer mehr abschwellen und beide Parteien sich beruhigen. In Takt 47 kommt es durch die in der rechten Hand begleitete Abwärtsbewegung der Stimme zum Ausklingen der Phrase. Die Arpeggi klingen noch einmal in F-Dur vom großen F bis zum c4 decrescendierend und werden dann von einem reinen Des-Dur im Bass aufgefangen.

Obwohl dieses erste Stück vermeintlich in Des-Dur steht, befinden wir uns fast nie direkt in dieser Tonart. Stattdessen werden Dominantparallelen verwendet, was eine Tonartlosigkeit vermittelt und damit den Eindruck erzeugt, dass diese Melodien zerbrechlich sind. Der Text gerät in den Vordergrund und es gibt zwar immer wieder die Harmonierelationen, jedoch nie ein eindeutiges Tonartbekenntnis.

Das zweite Lied dieses Zyklus’ ist mit dem Titel „Shoshanna II“ versehen und in zwei klassische Strophen unterteilt, verbunden durch ein Wiederholungszeichen. In diesem kleinen Stück, das die Tempobezeichnung „con moto“ ♩ = 112 trägt, gibt es einen Kanon, der sich nicht nur zwischen zwei, sondern sogar zwischen drei Parteien abspielt. So entsteht der Eindruck einer kleinen Fuge. Die Hauptmelodie – angeführt durch einen Quint- und dann einen Quartsprung – zieht sich durch alle drei Zeilen der jeweiligen Systeme. Ein Walking-Bass, eine Melodiestimme in der linken Hand und die Oberstimme im Gesang führen das Muster fort. Im Gegensatz zu dem vorherigen Lied wird die Melodiestimme nicht gedoppelt, vielmehr sind die Musizierpartner gleichberechtigt. Im Bass wird zunächst (ähnlich wie im ersten Lied) keine deutliche Aussage zur Tonart getroffen. Es erklingen ausgehaltene leere Quinten auf D und A. Auf sie setzt sich die Melodie der rechten Hand und figuriert durch kleine Vorschläge vor den absteigenden Achtelnoten vorsichtig hin zu d-Moll. Obwohl die Melodie sich durch alle Stimmen zieht und scheinbar viel passiert, behält das Lied seine Schlichtheit und lässt so einen folkloretypischen Höreindruck entstehen.

Das dritte und letzte Lied ist gleichzeitig das kürzeste des Zyklus und ist mit „R’itiha“ („I saw her“) betitelt. Es wirkt anfänglich wie das schlichteste von den dreien, zumal der Anfang nur in der rechten Hand gespielt wird. In der Tempobezeichnung fallen jedoch gleich drei Dinge auf: Das Anfangstempo wird bereits mit ♩ = 144 bezeichnet und dann gibt es neben der Anweisung „joyful and quick“ noch eine dritte Anmerkung, die besagt „Accelerando encores – increasing in speed with every verse“. Dabei teilen sich die Strophen in zwei Teile. Der gesungene Satz wird wieder durch eine Art Kanon in der linken und rechten Hand sowie der Gesangsstimme präsentiert. Mit jedem Satz kommt im Gedicht die Person der Angebeteten näher: „I saw her as she went to the well to fetch water“, „I embraced her as she went to the well to fetch water” und „I kissed her as she went to the well to fetch water“. Dies wird durch das ansteigende Tempo unterstrichen. Jede Aussage endet auf einer Fermate und wird dann zunächst durch ein piano-lento aufgelöst auf „hayala“, was dann in eine Art musikalisches Lachen mündet, da erneut ein Accelerando entsteht, das in einem crescendo-decrescendo endet.

Das letzte Stück wirkt durch die eben beschriebenen stilistischen Mittel wie eine Art kleiner Rausch, der die Verliebtheit des lyrischen Ichs widerspiegeln soll. Obwohl alle drei Lieder sehr schlicht gehalten sind in ihrem Aufbau und ihrer Notation, gewinnt man den Eindruck, dass sie nicht lediglich etwas Einfaches, sondern vielmehr etwas Zartes widerspiegeln. Die Stücke könnten sowohl von Anfänger*innen als von auch fortgeschrittenen Musiker*innen musiziert werden. Vielleicht wurde der Zyklus auch unter diesem Aspekt komponiert, damit er in der Familie Ury selbst musiziert werden konnte.
Die folgenden Überlegungen sind persönliche Interpretationen und Ideen der Autor:innen: Ein:e Sänger:in würde sich nach Auseinandersetzung mit der hebräischen Aussprache und der Wort-für-Wort-Übersetzung der Gedichte vermutlich besonders auf die Musizierweise konzentrieren. Auch wäre denkbar, sich auf die folkloristischen Elemente zu konzentrieren, so dass die typischen Klezmerklänge zum Vorschein kommen. Da allen drei Liedern eine positive Aussage innewohnt, könnte eine Auseinandersetzung mit der Dynamik vielversprechend sein. Die Stücke könnten durch eine zu extrovertierte Interpretation aber auch ihren Charme verlieren. Gerade die Figurationen und Melismen im ersten Lied kommen durch eine Cadenza-artige, leichte Interpretation viel schöner zum Ausdruck, als wenn man unter dem Aspekt der vollen Stimmdarbietung ganz klar artikuliert.

 

Zuletzt bearbeitet: 14.02.2023

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