Nachlass Edith Gerson-Kiwi

Autorin: Dr. Regina Randhofer

Edith Gerson-Kiwi, bei der Eröffnung der "Musikinstrumentenausstellung Weinstein", Beth Bialik, Tel Aviv, Dezember 1987. Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung von Yoram Gerson.

1. Zur Person Edith Gerson-Kiwi

Die deutsch-jüdische Musikwissenschaftlerin Edith Gerson-Kiwi (Berlin 1908 – Jerusalem 1992) zählt zu den Pionierfiguren der israelischen Musikwissenschaft. Ihre Verdienste liegen insbesondere auf dem Gebiet der Institutionalisierung, inhaltlichen Ausrichtung und internationalen Vernetzung des Faches im neuen Staat Israel.

Edith Gerson-Kiwi wurde in das Berliner deutsch-jüdische Bildungsbürgertum hineingeboren und genoss eine klassisch-humanistische Erziehung. Schon früh wurde ihre musikalische Begabung durch Klavier- und Kompositionsunterricht am Sternʼschen Konservatorium gefördert. Orgel- und Cembalostudien bei Günther Ramin (Leipzig) und Wanda Landowska (Paris) ergänzten später ihre musikalisch-praktische Ausbildung.

An den Universitäten Freiburg, Heidelberg und Leipzig absolvierte Edith Gerson-Kiwi ein Studium der Musikwissenschaft mit den Nebenfächern Philosophie und Literaturgeschichte (1927–1933). Als Schülerin von Willibald Gurlitt, Theodor Kroyer und Heinrich Besseler lag ihr Studienschwerpunkt auf der älteren Musikgeschichte. Ihre Dissertation ist einem Renaissancethema gewidmet: der Geschichte des italienischen Liedmadrigals im 16. Jahrhundert.

Der steigende antisemitische Druck in Deutschland führte Edith Gerson-Kiwi 1933 nach Bologna, wo sie Paläographie und Bibliothekswissenschaft studierte. 1935 entschloss sie sich zur Immigration nach Palästina. Mit dem Wechsel der Lebenswelt erfuhren auch ihre wissenschaftlichen Interessen eine Neuausrichtung. Von entscheidender Bedeutung war die Begegnung mit Robert Lachmann (1892–1939), einem Arabisten und Vertreter der Berliner Vergleichenden Musikwissenschaft. Lachmann, der ebenfalls 1935 nach Palästina immigriert und in Jerusalem mit dem Aufbau eines Phonogramm-Archivs für orientalische Musik beauftragt war, führte die Musikhistorikerin in die Musikkulturen des Nahen Ostens und Nordafrikas ein.

Nach Lachmanns Tod setzte Edith Gerson-Kiwi das Erbe ihres Lehrers fort. Ihr besonderes Augenmerk galt dabei der Dokumentation, Erforschung und Popularisierung des Liedguts der orientalischen Juden, das sich aufgrund seiner mündlichen Überlieferung im modernen Schmelztiegel Israel zu verlieren drohte. Daneben traten weitere Musikkulturen Vorderasiens in ihren Interessenshorizont wie Araber, Drusen und orientalische Christen. Im Laufe ihres Lebens machte sie über 10.000 Tonaufnahmen, mit denen sie die vielstimmige Klanglandschaft des sich formierenden Staates Israel dokumentierte.

Edith Gerson-Kiwis Leben und Schaffen muss vor dem Hintergrund der Beheimatungsprozesse und des Erwerbs einer neuen kulturellen Zugehörigkeit gesehen werden, die insbesondere den deutschen Juden angesichts ihrer erzwungenen Immigration abverlangt wurden. Grundlegend dafür war die Vermittlung zwischen den beiden Kulturräumen Europa und Palästina/Israel, der alten und der neuen Heimat. Von epistemischer Bedeutung war für die Musikwissenschaftlerin die Idee einer „panasiatischen“ Kulturgemeinschaft, über die beide Kulturräume miteinander verbunden sind und in der Europa der empfangende Teil ist, gespeist aus den Quellen des Orients. Unter ihnen haben wiederum die orientalischen Juden als Träger vermeintlich ältester Überlieferungsschichten den Vorrang.

Die Hinwendung zur nahöstlichen Musik mit seinen mündlichen Überlieferungen brachte Edith Gerson-Kiwi internationale Geltung ein. Ihr Konstrukt einer orientalisch-jüdisch dominierten panasiatischen Kulturgemeinschaft stieß sowohl bei der zionistisch geprägten Gesellschaft des jungen Israel als auch im Nachkriegsdeutschland, das sich um neue Verständigung mit den Juden bemühte, auf große Resonanz. Davon zeugen zahlreiche Einladungen zu Gastveranstaltungen, Radiosendungen, Filmaufnahmen, Publikationen oder leitenden Mitgliedschaften, mit denen sie als Botschafterin Israels mit deutsch-europäischen Wurzeln ihr Land auf der internationalen Bühne repräsentierte. Auch in Israel wurde ihr Engagement belohnt: 1969 erhielt sie den Ruf als Professorin an die Tel Aviv University, 1970 wurde ihr der Joel-Engel-Preis der Stadt Tel Aviv verliehen.

2. Zur Sammlung

Das Europäische Zentrum für jüdische Musik in Hannover beherbergt einen umfangreichen Teil (ca. 32 Regalmeter Papierdokumente) des Nachlasses von Edith Gerson-Kiwi. Weitere Teile befinden sich an der National Library of Israel in Jerusalem, am Jewish Music Research Centre in Jerusalem (Tonbandaufnahmen), am Felicja Blumental Music Center in Tel Aviv (Musikinstrumentensammlung u. a. Dokumente) sowie an der Tel Aviv University (Unterlagen zur Lehre).


Wege der Sammlung von Israel nach Hannover

Der Teilnachlass in Hannover wurde nach dem Tod von Edith Gerson-Kiwi durch Andor Izsák für das Europäische Zentrum für Jüdische Musik erworben. Die ebenfalls zum Teilnachlass gehörende private Forschungsbibliothek Edith Gerson-Kiwis ist fast vollständig über den Bibliothekskatalog der Hochschule für Musik, Theater und Medien erschlossen.

Dimensionen der Sammlung

Die Sammlung am Europäischen Zentrum für jüdische Musik wurde von Edith Gerson-Kiwi verfasst; zumindest gilt dies für einen Großteil der Sammlung, der von ihr nach spezifischen Kriterien organisiert wurde. Die Dokumente umfassen einen Zeitraum von nahezu siebzig Jahren (1910er bis 1980er Jahre) und decken zentrale geschichtliche Räume ab: Weimarer Republik, nationalsozialistisches Deutschland, Palästina des britischen Völkerbundmandats, Staat Israel und Nachkriegsdeutschland. Dank Edith Gerson-Kiwis extensiver Reisetätigkeit und Korrespondenz ergeben sich darüber hinaus Einblicke in zahlreiche andere Länder und Kulturen. Ihrem Reisen, Korrespondieren und Sammeln verdankt sich auch die Vielsprachigkeit der Dokumente – Deutsch, Englisch, Hebräisch und andere europäische und nichteuropäische Sprachen – sowie die zahlreichen zeitgenössischen Personen, die im Nachlass bezeugt sind. Allein die Korrespondenz (ca. 6.000 Briefe) in deutscher, englischer, hebräischer, französischer und italienischer Sprache verzeichnet über 1.000 Korrespondenzpartner.

Liste der Korrespondenzpartner.

 

  • Relevanz der Sammlung

Papiere aus Jugend- und Studienzeit, Unterlagen zu Forschung und Lehre, zu Publikationen, Veranstaltungen und Projekten sowie Korrespondenz und Zeitungsberichte lassen nicht nur die Wissenschaftlerin und die Entwicklung ihres Ideengebäudes sichtbar werden, sondern geben auch Einblick in das politische, gesellschaftliche und kulturelle Umfeld, in dem sie wirkte. Mehr noch sind die Dokumente ein einzigartiges Zeugnis dafür, wie sich die deutsche akademische Tradition von Lehre und Forschung sowie Konstruktion und Verbreitung von Wissen mit der Flucht deutscher Jüdinnen und Juden nach Palästina in die akademische Kultur Israels eingeschrieben hat. Damit bildet der Nachlass in beispielhafter Weise das „Europäertum“ der Judenheiten Mitteleuropas ab, die aufgrund ihrer transnationalen Geschichte Wissensbestände aus ihren territorialen, religiösen und kulturellen Bindungen herauszulösen und in neue lokale Kontexte zu vermitteln wussten.

  • Vorläufige Bestandsübersicht

– Erschließungsstand: Juli 2017 (I.–IV.: Susanne Borchers; V.: Samuel Mund)

I. Werke

  • Kompositionen aus der Kinder-/Jugendzeit

  • Mitschriftenhefte (mit Einlagen)

  • Schul- und Studienarbeiten

  • Tagebücher, Notizhefte, Vokabelhefte

     

  • Transkriptionshefte

  • einzelne Notenabschriften

  • selbst verfasste Lebensläufe und Bibliographien zur eigenen Person

  • handschriftlich geschriebene Hefte zu eigenem Bibliotheksbestand

  • Mappen mit Exzerpten (durchnummeriert: E 01 – E 46, Bestand lückenhaft; weitere nicht nummerierte Mappen mit Exzerpten)

  • Mappen mit Vorarbeiten zu Veröffentlichungen, Vorträgen etc. (durchnummeriert: A 01 – 174, Bestand lückenhaft; weitere nicht nummerierte Mappen mit Vorarbeiten)

  • Mappen zu Projekten und Kongressteilnahmen

  • Mappen zur Hochschullehre

  • maschinenschriftliche Fassungen von eigenen Arbeiten

  • Sammlung eigener Veröffentlichungen

  • Sammlung eigener Veröffentlichungen in Sonderdrucken

  • eigene Veröffentlichung mit Dia-Reihe zu Musikinstrumenten

  • Sammlung eigener Zeitungsartikel

  • kleine Plakatsammlung zu eigenen Veranstaltungen

  • Schallplatten-Veröffentlichungen mit eigenen Phonogrammen

  • einzelne Tonbänder (u. a. selbstgesprochener Radiovortrag, Musikbeispiele für Vorträge, aufgezeichnetes Gespräch mit dem Vater)

  • Karteikarten mit bibliographischen Angaben und Notizen

  • Werke anderer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler (maschinenschriftlich, Sonderdrucke)

II. Korrespondenzen

  • Briefe von Fritz Dietrich (1927–1935) mit drei Kompositionen von Fritz Dietrich und Fotos

  • 9 Ordner Korrespondenz (1968–1990) mit knapp 4.000 Briefen und Dokumenten

  • weitere ca. 2.000 Briefe aus Büchern und einzelnen Mappen (z. B. Korrespondenz zur Gründung der Sektion Israel der Internationalen Heinrich-Schütz-Gesellschaft)

III. (Lebens-)Dokumente

  • Poesiealbum (1917–1923)

  • Zeugnismappe (Schulzeugnisse, Abschrift Reifezeugnis, Zeugnisse Stern‘sches Konservatorium Elementarklassen, Zeugnisse Jüdische Gemeinde zu Berlin)

  • erneuertes Doktor-Diplom der Universität Heidelberg 1983

  • Kalender

  • Fotos, Negative, Fotoalben

IV. Sammlungen

  • 3 Ordner „Critics on myself”

  • Sammlungen von Abbildungen

  • Sammlungen von Zeitungsartikeln

  • Bucheinlagen (heterogener Bestand mit Zeitungsartikeln, Sonderdrucken, Drucksachen, Korrespondenz, Notizen)

  • Einzeldokumente (z. B. „Minutes of Meetings“ der Jerusalem Musical Society, 1925–1932)

  • einzelne Objekte

– ergänzend zum Erschließungsstand Juli 2017, Susanne Borchers (Januar 2022 [Samuel Mund]) –

V. Bücher, Schallplatten, Tonbänder

  • ca. 1.800 Bücher (private Forschungsbibliothek)

  • vereinzelte Schallplatten (etwa 30) und Tonbänder (22 Stück, Rundfunkmitschnitte und Feldforschungsaufnahmen)

3. Drittmittelgeförderte Projekte zur Sammlung

Folgende drittmittelgeförderte Projekte sind bislang aus der Sammlung hervorgegangen:

Katalogisierung des Nachlasses Edith Gerson-Kiwi“

  • Finanzierung: Rothschild Foundation, London

  • Projektbeteiligte: Europäisches Zentrum für Jüdische Musik der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover

  • Projektlaufzeit: 1. März 2019 – 31. März 2022

  • Projektbearbeitung: Christoph Hölzel M.A.

Von Berlin nach Jerusalem und zurück – Die deutsch- jüdische Musikwissenschaftlerin Edith Gerson-Kiwi (1908–1992) in ihren Briefen“

  • Finanzierung: Niedersächsisches Ministerium für Wissenschaft und Kultur

  • Projektbeteiligte: Europäisches Zentrum für Jüdische Musik der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover; Hebrew University of Jerusalem, Jewish Music Research Center

  • Projektlaufzeit: 1. Mai 2019 – 31. April 2022

  • Projektbearbeitung: Dr. Regina Randhofer

Link zum Kiwi-Projekt des Jewish Music Research Centre

1.  Ein früher Brief aus Jerusalem - Randhofer

2. Gerson-Kiwi an Eva Newman - Originalbrief

3. Gerson-Kiwi an Eva Newman - Transkription

4. Tabelle - Briefgruppe - Ein früher Brief - Randhofer

 

4. Ausgewählte Innenansichten

Die Sammlung erlaubt u. a. Einblicke in

  • den Aufbau einer jüdischen kulturellen und akademischen Landschaft in Palästina/Israel
  • die Beheimatungsprozesse jüdischer Immigranten aus Europa
  • die Nachkriegszeit in Europa, insbesondere Deutschland
  • die deutsch-israelischen Beziehungen nach 1945
  • das Leben und Schaffen einzelner Personen.

Aufbau einer jüdischen kulturellen und akademischen Landschaft in Palästina/Israel

  • Jerusalem Musical Society, Protokollheft (britische Mandatszeit)
  •  Zionismus in Palästina/Israel
  • Archives of Jewish and Oriental Music – Entstehung und Entwicklung
  • Ausdifferenzierung des Musiklebens
  • Palestine Conservatoire
  • Radiotalks
  • Institutionengeschichte
  • Musikwissenschaft in Israel – Entwicklung unter maßgeblicher Beteiligung deutsch-jüdischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler
  • Israel Musicological Society
  • Orbis Musicae, Zeitschrift hg. von der Musikwissenschaft der Universität Tel Aviv – Gründungsgeschichte und frühe Jahre
  • Sinai-Expedition 1968

Beheimatungsprozesse jüdischer Immigranten aus Europa

  • Deutsch-jüdisches Exil in Palästina/Israel
  • Deutsche Juden in Palästina/Israel und die „Arabische Frage“
  • Beethoven und der Orient
  • Ost und West

Nachkriegszeit in Europa, insbesondere Deutschland

  • Internationales Institut für vergleichende Musikstudien und Dokumentation Berlin
  • „Musikethnologie“ und ihre Semantiken im Spannungsfeld internationaler Forschung
  • Musikwissenschaft im Nachkriegsdeutschland

Deutsch-israelische Beziehungen nach 1945

  • Internationale Schütz-Gesellschaft, Sektion Israel – Gründungsgeschichte
  • Mühlheimer Singkreis in Israel
  • Wissensmigration aus Israel in den deutschsprachigen Raum
  • Beziehungen mit dem Bärenreiter-Verlag

Leben und Schaffen einzelner Personen

  • Burkhard, Paul
  • Eggebrecht, Hans Heinrich
  • Lachmann, Robert
  • Schiffer, Brigitte
  • Vötterle, Karl
  • Werner, Eric
 

Zuletzt bearbeitet: 15.06.2022

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