Alfred Sendrey

Alfred Sendrey

„Ich schau mal im Sendrey nach“ – dieser Satz ist in einer Forschungsbibliothek für jüdische Musik häufig zu hören. „Der Sendrey“: Das ist die 1951 erschienene Bibliography of Jewish Music (1), deren umfassende Auflistung von Noten und Fachliteratur zudem zahlreiche biographische Daten zu jüdischen Musikern enthält und damit bis heute ein wichtiges Nachschlagewerk im Bereich jüdischer Musik ist.
Alfred Sendrey (2) (3), geboren am 29. Februar 1884 in Budapest, war in seinem ersten beruflichen Leben Dirigent, Komponist und Rundfunkschaffender, der 1918 nach Deutschland kam, während der NS-Zeit nach Frankreich floh und schließlich in den USA lebte, wo 1940 sein zweites berufliches Leben begann, das des Forschers zu jüdischer Musik.

Mit sechs Jahren erhielt Sendrey Klavierunterricht (4) und mit 17 Jahren begann er sein Musikstudium an der Königlich-Ungarischen Musikakademie in Budapest (5), gegen den Willen seiner Eltern, die ihn lieber bei den Rechtswissenschaften gesehen hätten. Nach Abschluss des Studiums im Jahr 1905 folgten Engagements u. a. als Kapellmeister an der Oper Köln (1905 bis 1907), der Hamburgischen Staatsoper (1912 bis 1913) und in New York (1913 bis 1914). Während des Ersten Weltkrieges gehörte er der Österreichisch-Ungarischen Armee an, arbeitete aber weiterhin auch als Dirigent (6).

1918 fuhr Sendrey nach Leipzig, um am dortigen Opernhaus seine Oper „Im türkisenblauen Garten“ (7) vorzustellen. Da gerade zu dieser Zeit der Kapellmeister Knappertsbusch erkrankt war und ein Ersatz dringend gesucht wurde, sprang Sendrey ein und wurde, nachdem Knappertsbusch kurze Zeit später eine Stellung in Dessau angenommen hatte, zum 1. Kapellmeister der Leipziger Oper. Seine Ehefrau Eugenie Weisz-Szendrei und die beiden Kinder folgten ihm 1919 nach Leipzig, und es begann die Zeit von Sendreys musikalischer Karriere: nicht nur wurde seine Oper am 7. Februar 1920 uraufgeführt – er dirigierte vor allem zahlreiche Opern und wurde so zum anerkannten und erfolgreichen Dirigenten der Stadt. 1924 endete Sendreys Anstellung an der Oper unter für ihn unglücklichen Umständen: Während er auf einer Konzertreise war, wurde an der Oper der Posten des Operndirektors, dessen sich Sendrey sicher gewesen war, an Gustav Brecher vergeben. Dieser meinte, „dass ein Theater nicht zwei Persönlichkeiten vertragen könne“ (8), woraufhin Sendreys Tätigkeit am 24. Februar 1924 beendet wurde. Sendrey hat danach „nie wieder an einem Theater Oper dirigiert“ (9). Es folgte für ihn eine ruhmreiche Zeit an der Leipziger Rundfunkanstalt, deren Sendestart am 1. März 1924 er wesentlich mitgestaltete und deren Leiter er später wurde. In dieser Funktion fiel ihm auch die Leitung des Rundfunk-Sinfonieorchesters zu, und er setzte sich – zum Teil unter Einsatz eigener finanzieller Mittel – in beeindruckender Weise für die Entwicklung von Rundfunk und Orchester gleichermaßen ein. Dies lässt sich auch an seiner Promotion – 1928 setzt er sein Universitätsstudium in Leipzig fort – ablesen, die 1931 in Leipzig bei Kistner & Siegel unter dem Titel „Rundfunk und Musikpflege“ erscheint.

1931 aber erlitt Sendreys bis dahin enorm fleißiges – Hans Reimann beschreibt ihn als „Arbeitstier“ (10) – und erfolgreiches Berufsleben einen Bruch. Vor seinem Orchester erzählte er einen, so schreibt Sendrey, „harmlosen [Witz]“, der geeignet war, „das Nazitum durch ein Wortspiel auf sexuellem Gebiet ins Lächerliche zu ziehen“ (11). Kurz darauf erschien am 17. November 1931 in der Zeitung „Der Freiheitskampf“ der Artikel ‚An den Pranger mit Dr. Szendrei!’, der in kürzester Zeit Sendreys fristlose Entlassung bei der Rundfunkgesellschaft bewirkte. Auf Grund der anschließenden Reaktionen sah Sendrey sich gezwungen, nach Berlin zu ziehen. Hier hatte er ab Februar 1932 eine (gering bezahlte) Stelle als Lehrer für Komposition am Klindworth-Scharwenka-Konservatorium inne, die ihm jedoch bereits im März 1933 gekündigt wurde. Es folgte die Ausreise nach Frankreich; auf der Fahrt gelang es ihm, in kartonierten Mappen für Orchestermaterial das Geld aus seiner zuvor zurückgekauften Lebensversicherung zu schmuggeln. In Paris war er beim französischen Rundfunk tätig, floh jedoch im Juni 1940 nach der Invasion der deutschen Truppen in Frankreichs Süden (Cassis sur mer). Nachdem er von Erich Korngold ein so genanntes Charakteraffidavit bekommen hatte, gelingt 1941 die Flucht nach New York, wo sich Sendrey, inzwischen mittellos, einem Neubeginn stellen musste.

Dieser Beginn war zugleich auch der Neustart für Sendreys berufliche Ausrichtung. Im Alter von 57 Jahren besann sich „Szendrei [...] der Wurzeln seiner Väter und widmete sich wissenschaftlich wie praktisch der jüdischen Musik“ (12). Zwar wirkte Sendrey nun auch wieder als Kompositionslehrer – unter anderem nahm Henry Mancini bei ihm Unterricht – und man sieht ihn sogar 1947 in dem Film „Song of love“ als Dirigenten in einer Szene mit Katharine Hepburn. Und doch hatte sich sein Blick der Bewahrung der jüdischen Musik zugewendet: „I felt that it was the duty of every educated Jew to participate in the intellectual struggle againt Nazism [...]. My field had to be, of course, the domain of music.“ (13). Sendrey beschloss, eine Bibliographie zu jüdischer Musik zu erstellen. Dieses Unterfangen, das selbst mit heutigen Mitteln ein Großprojekt wäre, stellte sich zur damaligen Zeit als Herkulesarbeit heraus. Diverse Bibliotheken, Archive, Einrichtungen, Kantoren und Privatpersonen öffneten ihre Sammlungen für ihn – doch wie sollte auch nur annähernd Vollständigkeit erreicht werden, wenn er keinen Zugang zu europäischen Bibliotheken erhielt? Und doch hat Sendrey handschriftlich annähernd 20.000 Karteikarten beschrieben, die Einträge sortiert und zu einer gebrauchsfertigen Bibliographie zusammengefügt. Nachdem die American Academy for Jewish Research ein so umfangreiches Werk nicht publizieren wollte, sagte schließlich, nach den Absagen diverser anderer Verlage, die Columbia University Press zu. Bis zur Veröffentlichung dauerte es jedoch noch einmal acht Jahre, die – Sendrey beschreibt dies rückblickend geradezu amüsiert – von zahlreichen Hindernissen bis hin zum Bankrott des Verlagsdruckers geprägt waren. Ein schwerwiegender Aspekt war für Sendrey vor allem, dass nach Abschluss der Arbeiten im Jahr 1943 galt: „Nothing to be added during publication. No matter what!“ (14) – obwohl er bis zum Erscheinen 1951 immer wieder auf neue Quellen stieß, so dass die Bibliographie bereits mit ihrem Erscheinen unvollständig war. Zu Recht aber sagt Sendrey, dass eine Pionierarbeit dieser Art nicht fehlerfrei sein könne. Die Lückenhaftigkeit führte schon bald in Literaturverzeichnissen wissenschaftlicher Arbeiten zu, wie Sendrey es nennt, zweifelhaften Komplimenten: Hier gab es die Abkürzung „NIS“, die für „not in Sendrey“ stand (15). Sendrey, der zwei weitere Grundlagenwerke zu jüdischer Musik schrieb (16), erreichte mit seiner Bibliographie, was er sich zum Ziel gesetzt hatte – so war sein Werk, dessen Entstehungsgeschichte er als „Adventure and Misadventure“ (Abenteuer und Missgeschick) (17) darstellt, u.a. Grundlage für den Aufbau der Library of Jewish Music der University of Jerusalem (18).  Sendrey starb am 3. März 1976 in Los Angeles (19). Sein Andenken aber bleibt der jüdischen Musikforschung durch den täglichen Gebrauch des „Sendrey“ gewiss erhalten.

Barbara Burghardt (2015)

 

Alfred Sendrey

(c) Seume-Verlag

Bibliographische Angaben

(1) Sendrey, Alfred: Bibliography of Jewish Music. New York, 1951.
EZJM-Signatur: A0 Sen

(2) Ein Großteil der biographischen Angaben, insbesondere jene zur Leipziger Zeit, stammen aus: Max Pommer (Hrsg.): Im türkisenblauen Garten. Der Weg des Kapellmeisters A. S. von Leipzig in die Emigration, erzählt von ihm selbst. Leipzig, 2014.
EZJM-Signatur: A2 2 Sen

(3) Ursprünglich  hieß Alfred Sendrey mit Nachnamen „Schatz“ (Pommer, S. 186). Diesen Namen änderte er zu Budapester Zeiten in Szendrei (ebd.), später in Szendrey und schließlich in den USA zu Sendrey (ebd., S. 169). Da seine Hauptwerke im Bereich jüdischer Musik unter der letztgenannten Schreibweise erschienen, wird in dieser Biographie diese Form gewählt.

(4) Robert Strassburg: Alfred Sendrey. In Memoriam. In: Journal of Synagogue Music. 1976 (Vol. 6), S. 16.

(5) Webseite der Freunde und Förderer des MDR-Rundfunkchores Leipzig: Wir erinnern an den 30. Todestag des Dirigenten Alfred Szendrei. Abruf: 18.02.2015.

(6) Ebd.

 (7) Sendrey komponierte noch weitere Werke, die hier aus Platzgründen nicht aufgeführt werden. Eine Auflistung findet sich in: Pommer, S. 171.

 (8) Pommer, S. 59.

(9) Ebd., S. 69.

(10) Hans Reimann: Das Buch von Leipzig. München, 1929.

 (11) Pommer, S. 145f.

(12) Max Pommer in: Pommer, S. 187.

(13) Die Informationen zu Entstehung und Werdegang der Bibliographie stammen aus:  Alfred Sendrey: Adventures of a Bibliography. In: Journal of Synagogue Music, 1969 (Vol. 2), S. 15–19.

(14) Sendrey: Adventures, S. 18.

(15) Ebd.

(16) Alfred Sendrey: Music in Ancient Israel. London, 1969.
EZJM-Signatur: A1 2 Sen
und
Alfred Sendrey: The Music of the Jews in the Diaspora. New York [u.a.], 1970.
EZJM-Signatur: A1 1 Sen

(17) Sendrey, Adventures. S. 15.

(18) Strassburg: Alfred Sendrey, S. 18.

(19) Webseite der Universal-Edition, Unterseite Alfred-Szendrei/komponisten-und-werke/komponist/4396. Abruf: 18.02.2015.

Zuletzt bearbeitet: 29.03.2022

Zum Seitenanfang