The Cantor
Landman: The Cantor
Dem Chasan, dem jüdischen Kantor bzw. Vorbeter, kommt im jüdischen Kultus eine entscheidende Rolle zu: Als „Abgesandter der Gemeinde“, als scheliach zibbur, bringt er stellvertretend für die Gemeinde die Gebete vor Gott. Er singt die jüdische Liturgie in ihrer regionalen Ausprägung, kennt die Melodien für die verschiedenen Gebete und die Kantillation der biblischen Bücher.
Im Lauf der jüdischen Geschichte war der Chasan oft nicht nur mit dem Leiten der Gottesdienste betraut, sondern übernahm in den Gemeinden auch weitere Aufgaben wie die des Lehrers, des Schächters o. ä. Besonderes Ansehen konnte er sich dank seiner Musikalität erwerben: Vor allem das späte 19. und beginnende 20. Jahrhundert kannte die Starkantoren, die viele Beter und Interessierte in die Synagogen lockten und die zum Teil auch auf den weltlichen Bühnen Erfolge feierten.
Leo Landman vermittelt einen historischen Überblick über die Aufgaben und den Status des jüdischen Kantors. Er gliedert sein Buch in zwei große Teile. Der erste, den er "The Middle Ages" überschreibt, umfasst den großen Zeitraum von den Anfängen bis in das 18./19. Jahrhundert. Landman zieht zahlreiche Schriften der jüdischen Tradition heran, um die Tätigkeit des Chasan, seine Position in der Gemeinde, sein Verhältnis zu Gelehrten und Rabbinern, seine rechtliche Situation etc. zu beschreiben. Dabei fasst er die verschiedenen Belege, durch Zeiten und Regionen hindurch, in thematischen Abschnitten zusammen, ohne sie weiter in ihren jeweiligen historischen Kontext einzuordnen. Immer wieder deutlich wird die Spannung zwischen religiösen und moralischen Ansprüchen, die die Gemeinden und ihre Gelehrten an den scheliach zibbur stellten, und dem künstlerischen Ausdruckswillen des Sängers, der die Beter mit seiner Musik berührte und ihnen als "entertainer" eine Abwechslung vom Alltag bot. Der zweite Teil des Buches, betitelt "Modern Days", befasst sich mit der Situation der Kantoren in den USA. Landman schreibt über die Anfänge der jüdischen Gemeinden in der Neuen Welt, die Epoche der Starkantoren, die rechtliche Stellung amerikanischer Kantoren und schließt mit einem kleinen Exkurs über den Kantor in der Literatur.
Insgesamt bietet das Buch eine Fundgrube an Texten, die sich mit der Rolle des Chasan befassen. Der Autor behandelt dabei auch Themen, die die musikalische Praxis betreffen, wie die Übernahme fremder Melodien in den jüdischen Gottesdienst, die Einrichtung von Chören oder das Auftreten der Starkantoren und ihr Verhältnis zur Oper.
Zu lesen ist das Werk in seinem Kontext: Leo Landman schreibt als Vertreter der Yeshiva University in New York, einer jüdischen Hochschule mit modern-orthodoxer Ausrichtung. Wie das Vorwort von Macy Nulman, dem damaligen Leiter des Cantorial Training Institute der Yeshiva University, verdeutlicht, soll das Buch sowohl professionellen wie auch Laien-Kantoren "guidance and inspiration" bieten. Vor dem Hintergrund der religiösen Ausrichtung ist auch die Tatsache zu sehen, dass Landman die Zeit des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts mit ihrer Reformierung und Ausdifferenzierung der jüdisch-liturgischen Musik in Europa (er nennt die Komponisten Israel Lovy, Salomon Sulzer, Samuel Naumbourg, Louis Lewandowski und Hirsch Weintraub) auf gerade einmal zweieinhalb Seiten behandelt und dieses kurze Kapitel mit den folgenden Worten beschließt:
"The last half of the nineteenth century saw a withdrawal of the masses from the larger congregations, their hazzanim and choirs. Most Jews were strictly observant and referred to these hazzanim as galochim (priests of the church) and their musical renditions as galochish. These hazzanim dressed in gowns just like priests and utilized the monotonous drone of the church music. A Yiddish proverb developed which said 'as der chazan ken kein ivrei nit, heisst er a Kantor' – when the hazzan does not know the meaning of the Hebrew prayers, he becomes known as a Kantor. Most Jews preferred the 'old-style' hazzanim. Nevertheless, the position of the hazzan was unalterably changed by the musical innovators mentioned above."
Das Exemplar in der EZJM-Bibliothek ist Teil des Nachlasses von Dr. Edith Gerson-Kiwi, wie die handschriftliche Widmung von Macy Nulman an die Musikwissenschaftlerin zeigt.
Susanne Borchers (2013)
Zuletzt bearbeitet: 29.03.2022
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