Gassenhawerlin
Gassenhawerlin und Reutterliedlin für vier Stimmen
„Eine bibliophile Köstlichkeit“, so beschreibt der Musikwissenschaftler Prof. Dr. Hans Joachim Moser die vier Notenbüchlein mit dem Titel „Gassenhawerlin und Reutterliedlin“, die 1927 als Faksimileausgabe neu herausgegeben wurden. Christian Egenolf (1502–1555), der die Noten 1535 erstmals veröffentlichte, gilt als ältester Musikverleger in Frankfurt am Main. Er hat in diesen vier Stimmheftchen 59 Weisen verschiedener, heutzutage überwiegend unbekannter Komponisten aus der Zeit um 1530 gedruckt. Die Faksimileausgabe erschien in einer kartonierten Schachtel, in die die vier Bändchen (jeweils ca. 7 x 9 cm) nebst einem ausführlichen Beiheft eingelegt sind. Die Vorlagen für das Faksimile stammen aus zwei verschiedenen Ausgaben, da es kein Exemplar gab, bei dem die vier Teile vollständig vorlagen: drei Hefte stammen aus der Ratsschulbibliothek Zwickau und eines (Discantus) aus der Staatsbibliothek München.
Für den mit früher Musik weniger vertrauten Betrachter bietet dieser Notendruck einige Überraschungen. So sind die vierstimmigen Sätze nicht als Partitur, sondern in einzelnen Stimmheften erschienen – Discantus, Altus, Tenor und Bassus. Der Liedtext aber ist lediglich im Tenorheft und hier auch nicht unter den Noten, sondern im Anschluss an das jeweilige Stück gedruckt. Hans Joachim Moser legt in seinem Vorwort folgerichtig nahe, die Stücke nicht mit vierstimmigem Chor aufzuführen, sondern lediglich den Tenor den Gesang übernehmen zu lassen und die übrigen Stimmen instrumental zu besetzen, zum Beispiel durch Violine (Discantus), Viola (Altus) und Violoncello (Bassus). Tatsächlich liegt die Melodiestimme im Tenor, was für heutige Hörgewohnheiten insofern ungewöhnlich ist, als dass seit dem Generalbasszeitalter der Cantus firmus, die Stimme mit der Stimmführung also, meist vom Sopran übernommen wird. Ebenfalls überraschend ist das Notenbild, das in der so genannten weißen Mensuralnotation gedruckt ist. Diese Notation, deren Ursprünge in der schwarzen Mensuralnotation um 1230 liegen, zeichnet sich unter anderem dadurch aus, dass sie nicht nur keine eindeutige Taktunterteilung hat, sondern auch die Notenwerte (Tondauern) nicht absolut sind: je nachdem, ob der Grundrhythmus drei- oder vierteilig ist und welche Werte die Nachbarnoten haben, ist zum Beispiel die Longa mit zwei oder drei Schlägen zu halten. Derart notierte Werke sind für einen der Mensuralschrift nicht kundigen Musiker kaum spielbar; der Herausgeber der vorliegenden Faksimileausgabe hat daher drei der Lieder in heutiges Notenbild übertragen. Ein Gassenhauer übrigens war ursprünglich die Bezeichnung für einen jungen Mann, der vor dem Fenster der geliebten Frau auf und ab geht – also das ‚Pflaster tritt’ – und ihr ein Ständchen bringt. Der Begriff Reutterliedlein lässt sich aus dem Ritterlied ableiten, gehört also ebenfalls in den Bereich des Minnesangs. Unter den Liedern finden sich Titel wie Ach lieb mit laid oder Zart schöne fraw, aber auch volksliedartigere Texte wie Es wolt ein Jäger jagen.
Als Ergänzung sei auf eine Begebenheit hingewiesen, die diese Ausgabe für das Europäische Zentrum für Jüdische Musik besonders macht: Das Faksimile erschien anlässlich der Vierten Deutschen Musikfachausstellung 1927. Hierin eingebettet war der Sommer der Musik, in dessen Rahmen auch eine Konzertreihe mit jüdischer Musik stattfand. Bei einem dieser Konzerte, so steht es im Gemeindeblatt der Israelitischen Gemeinde Frankfurt am Main (Nr. 11, 1927), sang „Oberkantor Saretzki die Solopartien“. Nathan Saretzki rettete 1938 während der Novemberpogrome aus der brennenden Frankfurter Hauptsynagoge 16 Notenbände, die 1997 dem EZJM überreicht wurden und seitdem hier für Forschungszwecke aufbewahrt werden.
Am zweiten Tag der Konzertreihe 1927 wiederum sang „Oberkantor Alter aus Hannover“. In den Jahren 2008 bis 2012 erschienen im EZJM drei CDs mit Aufnahmen des seinerzeit berühmten Sängers Israel Alter, die Prof. Andor Izsák von noch erhaltenen Schellackplatten hatte übertragen lassen.
So liegt mit dieser „bibliophilen Köstlichkeit“, die aus dem Nachlass der Musikethnologin Edith Gerson-Kiwi stammt, nicht nur eine interessante musikwissenschaftliche Quelle vor, sondern zugleich eine Verbindung der heutigen Arbeit des EZJM zu jener Zeit, als Synagogalmusik noch fester Bestandteil des deutschen Musiklebens war.
Barbara Burghardt (2014)
Zuletzt bearbeitet: 29.03.2022
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